4. Entwicklung der Land- und Volkswirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (3. Teil)

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8. Die kleinparzellierten Grundstücke

Um 1950 schreibt ein Durchreisender in einem Zeitungsartikel über Rhäzüns folgendes:
„Rhäzüns ist im Wesentlichen ein Bauerndorf. Das Feld in der nach Bündner Begriffen ausgedehnten Ebene zwischen Rhäzüns und Bonaduz bietet ein mannigfaltiges Bild von unzähligen kleinen Parzellen in bunten Farben neben- und quer zueinander. Es ist das Bild, das den Kleinbauern erkennen lässt“.31


1958: Flugaufnahme von Rhäzüns (kleinparzellierte Felder) (Sammlung chrsp.)

Das landwirtschaftlich genutzte Land in der Talebene weist Parzellengrössen von ca. 0.08 ha bis 0.50 ha auf. Das Land in den Zwischenstufen Runcars, Runcalatsch und Runcaglia auf ca. 800 m ü. M, und das Land auf der Oberstufe, die Maiensässe auf ca. 1200 bis 1450 m ü. M., besteht praktisch nur aus Einzelparzellen mit einem Waldanteil von ca. 1 bis 10 ha.    

Durch den Rückgang der kleinen Betriebe (wie schon erwähnt) konnten die verbleibenden Betriebe immer mehr Land zupachten, so dass schon in den 1970er-Jahren eine mittlere Parzellenzahl von über 100 pro Betrieb entstand. Dies waren sehr ungünstige Verhältnisse, denen nur mit einer grundlegenden Struktur-Verbesserung beizukommen war. Wenn auch die Vergrösserung der durchschnittlichen Betriebsfläche die Existenzgrundlage etwas zu verbessern vermochte, so entspricht die gegenwärtige Entwicklung doch keineswegs den Prinzipien zur Erhaltung einer leistungsfähigen Landwirtschaft. Eine solche kann erst wieder aufkommen, wenn durch eine Güterzusammenlegung geordnete Produktionsgrundlagen geschaffen werden. Eine offizielle Güterzusammenlegung, die durch die Meliorationsämter von Bund und Kanton durchgeführt wird, wurde anfangs der 1960er-Jahre schon aus verschiedenen Gründen an einer Gemeindeversammlung deutlich abgelehnt.

Das Hauptargument dagegen war, dass die nichtbäuerlichen Bodenbesitzer erpresserisch drohten, sie würden das Land an die „Holzverzuckerungs AG“ (HOVAG Ems) verkaufen. Die HOVAG kaufte zur selben Zeit im Bezirk Imboden landwirtschaftlichen Boden und Liegenschaften im grossen Stile zu Preisen, bei denen sonst niemand mitbieten konnte. Die Veräusserung des Bodens hatte damals ein besorgniserregendes Ausmass angenommen.

Bodenbesitz-Verhältnisse: Das Kulturland auf Gemeindegebiet von Rhäzüns war und ist immer noch grösstenteils im Besitze von Privatpersonen, wobei die Zahl der nichtbäuerlichen Bodenbesitzer ständig zunimmt und einige Erbgemeinschaften fortgezogen sind. Die nichtbäuerlichen Bodenbesitzer hatten Angst, eine Güterzusammenlegung werde sie mehr kosten als der Boden wert sei (der Pachtzins betrug Fr.1.- bis 3.- pro Are). So wurde an der Gemeindeversammlung gedroht, sie würden das Land an die HOVAG Ems verkaufen. Nach erhitzten Diskussionen stand ein Mitbürger auf und machte folgenden Spruch, der auf der Ostseite der alten Stand-Drescherei auf Romanisch geschrieben stand und so in Erinnerung blieb.   

„Stei fideivel alla tiara en honur tegn èr e prau cun fidonza semn et ara. Roga Diu per Siu quitau”. 
(Bleib der Scholle treu halte Wies- und Acker in Ehr pflüge und säe mit Vertrauen für seine Sorge bete zu Gott.)  

In Rhäzüns gibt es kein Land in korporativem Besitz. Die Bürgergemeinde besitzt den Wald, die Alpen und Heimweiden, sowie einen Komplex von rund 13 ha Bürgerlösern am Crest Tarmuz bass. Den verbleibenden Bauern bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Parzellen für die Bewirtschaftung zusammenzulegen. Ein paar junge Bauern begannen im Jahr 1971, unkompliziert und wohl im Einverständnis mit den Landbesitzern, die Parzellen untereinander für die Bewirtschaftung auszutauschen, ähnlich wie bei einer ganz normalen Güterzusammenzulegung. Es entstanden zum Beispiel aus 40 Parzellen nur noch 3 bis 4 Parzellen. Einige Landbesitzer versuchten, die Zusammenlegung zu verhindern. Die älteren Bauern sahen zwar den wirtschaftlichen Vorteil, begannen aber erst  mit ein paar Jahren Verzögerung auch mit dem Austausch der Parzellen für die Bewirtschaftung. 

Betriebsveränderung: In engem Zusammenhang mit der Mechanisierung standen die Abwanderung und die Betriebsvergrösserungen. Dank der Mechanisierung war es einerseits möglich, dass die verbleibenden Landwirte den durch Abwanderung frei gewordenen Boden bewirtschaften konnten. Anderseits mussten aber die Verbleibenden ihre Betriebe vergrössern, um die Maschinenkosten aufzufangen. Der Rückgang der Betriebe war offensichtlich. (Siehe Tabelle der Betriebs- und Nutzviehzählung)


1970 in Rufer: von Clemens Epli-Peng, Rapid-Einachtraktor (Sammlung chrsp.)


1975 in Rufer: Pieder Caminada-Stecher Mähdrescher aus dem Jahr 1959 (Sammlung chrsp.)

Zusammenfassung der Entwicklung über die letzten fünf bis sechs Jahrzehnte hinweg

Der Wandel in der Landwirtschaft: Allgemein in ländlichen Dörfern wie Rhäzüns hat sich die Kultur in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten grundlegend verändert. Die Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft brachten Fortschritt und Erleichterungen im harten Arbeitstag. Die Mechanisierung setzte vor allem ab den 1950er-Jahren ein und erreichte zwischen 1955 und 1965 einen ersten Höhepunkt. Der gewaltige technische Fortschritt hat die Arbeit auf dem Bauernhof sehr stark verändert. Jegliche Art von Zug, sei es mit Ochs-, Kuh- oder Pferdegespann, aber auch die „Handwägeli“ der Kleinviehhalter, wurden durch den Einachstraktor (Rapid, Aebi usw.) ersetzt. Der Zweiachstraktor (Ferguson, Bührer, Grunder, Hürlimann, John Deere etc.) war anfänglich zwar nur als Schlepper brauchbar. Die Pferdemähmaschine und der Motormäher ersetzten die Handarbeit mit der Sense, der Ladewagen die Heugabel, der Mistzetter- und Mistladekran die Mistgabel. In der Getreideernte brachte meiner Ansicht nach die Entwicklung des „fahrbaren Mähdreschers“ um 1955 einen der grössten Fortschritte sowie eine grosse Erleichterung. Bisher war das Getreidestroh auf dem Feld in Garben gebunden und mit dem Fuhrwerk mit Ochsen oder Pferden zur dortigen Stand-Dreschmaschine gebracht worden, von 1942 bis ca. 1960.

Für den Ackerbau, das Heuen und die Grasernte wurden für Traktoren mit Hydraulik und Zapfwellenantrieb allerlei mögliche Anbaugeräte entwickelt. Einen zweiten Höhepunkt gab es in den 1980er-Jahren durch die ständige Erweiterung der Mechanisierung sowie die immer grösser werdenden und auch leistungsfähigeren Maschinen. Dies zeitigte bald Auswirkungen, einerseits in Form von mehr Raumbedarf, denn in den engen Bauernhöfen im Dorfinnern genügten die Wirtschaftsgebäude den Anforderungen bei weitem nicht mehr, andererseits auch durch die stets ansteigenden Emissionen von Traktoren, Güllenrührwerken, Heugebläsen, Heubelüftungen sowie Melkmaschinen und den zunehmenden Gestank von Mist, Gülle und Silo etc. Das würde die moderne Dorfgemeinschaft im Dorfkern heute kaum mehr ertragen. Nun waren die verbleibenden Betriebe so stark gewachsen, dass eine geordnete Produktionsgrundlage vorhanden war für eine leistungsfähige Landwirtschaft, sodass die Aussiedlung einiger Betriebe möglich wurde.

Es erfolgten 4 Aussiedlungen: erste Aussiedlung 1976 von Via Davitg nach Runcaglia; zweite Aussiedlung 1978 von Mulegn sura nach Runcalatsch. (2014: Aufgabe durch Todesfall); dritte Aussiedlung 1990 von Via Suro nach Puleras; vierte Aussiedlung 1998 von Via Suro nach Ratiras.

Die neu ausgesiedelten Bauernhöfe haben das Landschaftsbild stark verändert. Die Hallenlaufställe mit Auslauf, Remisen, Fahrsilos, Kunststoff, Metallsilos und Bergen von weissen und grünen Rundballen, die überall unter freiem Himmel gelagert werden, prägen und verunstalten teilweise auch das Landschaftsbild.    

Die alten Bauernhöfe im Dorf: Die alten kleinen Scheunen und Ställe, 38 an der Zahl stehen noch „entzweckt“ im Dorf als Zeugen früherer Zeiten, erinnern an die damalige Selbstversorgung. Über 35 Scheunen sind in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten entweder zurückgebaut oder zu Wohnraum umgebaut worden, einige sind allerlei neuen Zwecken zugeführt worden.


2006: Kreuzung Via Cascharia u. Via Curtgani mit Dorfbrunnen, Fam. H. Henny-Schwendener. 2015 wurde die Scheune zurückgebaut. Der Dorfbrunnen mit Jahrgang 1904 wurde stehen gelassen. (Sammlung chrsp.)


2010: der schönste Hof von Rhäzüns liegt in Cresta Leunga und gehört den Geschwistern Fetz (Sammlung chrsp.)


2010: Streglia digl Alpenblick (Clemens Epli) (Sammlung chrsp.)


2017: Via Davitg 4, Vieh- und Heuscheune mit Jahrgang 1903. Sie wurde von Besitzer Andreas und Bettina Vils Architektur ARTHAUS, sinnvoll zum Hochbau-Planungs- Atelier umgestaltet (Sammlung chrsp.)

Für die zukünftigen Landwirte wird die Treue zur Scholle eine grosse Herausforderung sein
Die Höfe der vier Bauern, die in Rhäzüns noch einen landwirtschaftlichen Betrieb führen, sind für Bündner Verhältnisse vergleichsweise Grossbetriebe, im schweizerischen oder gar europäischen Kontext aber eher Kleinbetriebe. Ob Gross- oder Kleinbetriebe, im In- oder Ausland – sie erleben dauernd den genau gleichen strukturellen Wandel wie andere Wirtschaftszweige. Um in Zukunft ihre Existenz zu sichern, müssen die Landwirte heutzutage mehr denn je auf der Hut sein. Sie müssen bereit sein, auf innovative Art und Weise ihre Produkte der Nachfrage anzupassen und ihr Angebot eventuell zu erweitern, z.B. um arbeitsintensive Produkte, welche die Mithilfe von Familienmitgliedern oder von zusätzlichen fremden Arbeitskräften verlangen. 

Ebenfalls stehen in Zukunft auch noch andere Herausforderungen an: die Raumentwicklung und der haushälterische Umgang mit dem Kulturland, aber auch die Rückkehr von Wolf und Bär stellen den Bauern, Sennen und Hirten vor grosse Herausforderungen. Es bleibt zu hoffen, dass der initiative Geist und die Leidenschaft unserer Vorfahren auch in Zukunft an unsere Nachkommen weitergegeben wird und so in der Landwirtschaft entsprechend erhalten bleibt.32

„Den Bauern, bei denen die Preise der Qualität den Gesetzen des Marktes gehorchen, gehört trotz grossem Wandel auch die Zukunft“. (chrsp.)
"Europa hat über 500 Millionen Einwohner und muss ihre eigene Ernährung sichern, was bedeutet, dass sie Landwirtschaft in den ländlichen Räumen bewahren muss" (Mercedes Bresso)

Die beiden zuerst ausgesiedelten Bauernhöfe

Hof Mulegn sura, Eigentümer Andreas Hüberli
Aussiedlung und Erbaut vor 1850 von Jakob Fetz-Disch. Bis 2009 Eigentum der Erbfamilien Fetz-Cerletti / Anita Heini-Fetz. Ab 2009 Eigentum von Andreas Hüberli; Arbeitskräfte (Betriebsleiter): Andreas Hüberli; Temporär (Springer): Hüberlis Sohn; Betriebs-Level: Integrierte Produktion (IP); Landwirtschaftliche Nutzfläche: Total ca. 27.5 ha, davon ca. 8.5ha Ackerfläche
Tierhaltung: Anbinde-Vorrichtung; Kühe: 7, Rinder: 4; Freilaufstahl: Jung- und Mastvieh, 16 Stück; Futter-Konservierung: Kunststoff-Silo, Rundballen-Silage sowie etwas Dürrfutter; Stroh ebenfalls in Rundballen; 
Tierbestand: Rindvieh: Milchkühe –Kälber – Mastmuni – Rinder
Mechanisierung: Der Betrieb ist weitgehend durchmechanisiert.


2016 Sammlung chrsp.

Rhäzüns: Hof Mulegn/Weiermühle: erbaut um 1800, Eigentümer: Geschwister Bieler; Luzi, Fidel und Luzia, Bonaduz. Die Gebäude sind schon seit einigen Jahren nicht mehr belegt. Die Bewirtschaftung wurde in Pacht an Auswärtige vergeben.


Photo: 2006 (Sammlung chrsp.)

Die drei neu ausgesiedelten Bauernhöfe:  

Hof Runcaglia, Eigentümer Jürg Schmid, Familienbetrieb
1976: Gebrüder Gerhard u. Christian Spadin (Erbauer)
1989: Familie Christian u. Judith Spadin-Cadosch
1990: Peter Philip aus Untervaz. Pächterin: Familie Fankhauser
2005: Familie Schmid, Jürg. Rückkehrer aus den USA

Betriebs-Level: Integrierte Produktion (IP); Landwirtschaftliche Nutzfläche: ca. 20 ha Grünland; Stall/Scheune: Tiergerecht erstellt; Boxen-Laufstall mit Auslauf; Tierbestand: Rindvieh: Mutterkühe 13, mit Kälbern 11; Pensionspferde 5 und 1 Fohlen; Futter-Konservierung: Rundballen



1976 Sammlung chrsp.

Hof Puleras, Eigentümer Anette u. Constantin (Consti) Caminada-Stützel
Die Aussiedlung erfolgte 1993 vom Dorfinnern in Rhäzüns via Suro nach Puleras. Arbeitskräfte (Betriebsleiter): Consti, Anette; Betriebs-Level: Integrierte Produktion (IP); Landwirtschaftliche Nutzfläche: 38 ha, davon 12 ha Ackerfläche. Stall-Tierhaltung: Laufstall mit Tiefstreue und Auslauf; Rindvieh: Mutterkühe 36 mit 30 Kälbern, Rinder: 4-6 St., Nachzucht; Pensionspferde: 8-10; Futter-Konservierung: Fahrsilo- und Rundballen-Silage sowie etwas Dürrfutter. Stroh wird in Quader-Ballen gekauft; Zusätzlich Pachtung der Rhäzünser Unteralp 1999; Mechanisierung: Der Betrieb ist weitgehend durchmechanisiert.


2014 Sammlung chrsp.

Siedlung Hof Ratiras, erbaut 1998 von Familie Ruedi u. Simona Tschalèr-Cadosch, mit Kindern Lorena, Nuria, Curdin.
Die Aussiedlung erfolgte 1998 vom Dorfinnern in Rhäzüns via Suro nach Ratiras. Arbeitskräfte: Betriebsleiter: Ruedi, Administration: Simona, Lehrling; Temporär (Springer): Marcel Tschalèr; Betriebs-Level: Integrierte Produktion (IP); Landwirtschaftliche Nutzfläche: ca.48 ha, davon ca. 20 ha Ackerfläche; Zusätzlich Pachtung der Alp Starlera.
Tierhaltung: Stall/Scheune - tiergerecht erstellt; System Boxenlaufstall mit Auslauf sowie zum Teil mit Tiefstreue ebenfalls mit Auslauf; Futter Konservierung:Fahrsilo- und Rundballen-Silage sowie etwas Dürrfutter. Stroh ebenfalls in Rundballen.
Tierbestand: Rindvieh: Mutterkühe 32-35 mit Kälbern, Mastmuni und Rinder 20-30; Mastschweine 120; Pensionspferde 16
Mechanisierung: Der Betrieb ist weitgehend durchmechanisiert. 2 Traktoren, 1 Bobcart, 1 Allrad-Jeep; Betriebsstunden der Traktoren pro Jahr: 1000 bis 1200; alle möglichen Maschinen für die Feldbewirtschaftung, im Futter- und Ackerbau.


2014 Sammlung chrsp.


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