33. Hochgericht Rhäzüns (Gerichtslinde) / Curt da dretgira aulta da Razén sut la pleunta da tigl

 

Gerichtslinde

Die Gerichtslinde; Originaltext aus dem Atlas „Baum- und Waldbilder aus der Schweiz“, 2. Serie, herausgegeben vom Schweizerischen Departement des Innern, 1911

Die Linde steht links am Wege, der zum Schloss Rhäzüns führt, wenige Minuten von demselben entfernt, 650 m ü. M. Sie besitzt eine imposante Baumkrone, die sich aber nicht zur gewöhnlichen Kuppelform dieser Holzart, sondern mehr zur Pyramide entwickelte. Trotz des Alters ist der Baum noch dicht und frischgrün belaubt und seine untersten kräftigen Äste neigen sich tief gen Boden. Die Krone hat in ihrer grössten Breite 25 m, die Baumhöhe 27 m und der Stamm (bei 1.20 über Boden) 5.30 m Umfang. Die Linde steht unten am Bord einer Wiese in frischem Lehmboden, der dem Bünderschiefer aufliegt. Über das Alter der Linde sind keine bestimmten Angaben zu finden. Von 1734 bis zur Verfassung des Kantons Graubünden von 1854 diente der Raum um dieselbe als Besatzungsplatz der Gemeinden Rhäzüns, Bonaduz, Ems und Felsberg, wo die stimmfähigen Bürger am dritten Sonntag des Maien zusammentraten. Es ist aber anzunehmen, dass früher schon, zur Zeit der Herrschaft Rhäzüns, hier die Huldigung entgegengenommen und zu Gericht gesessen wurde, obwohl der Linde keine schriftlichen Überlieferungen Erwähnung tun. Es heisst da, wo von öffentlichen Versammlungen die Rede ist, immer nur „vor dem Schloss“oder „an gewöhnlicher Gerichtsstätte“.Aber auch anderwärts in Graubünden und im Gebiet der heutigen Schweiz war es in frühern Zeiten üblich, unter alten, grossen Bäumen, meist Linden, zu Gericht zu sitzen.

Die Linde befindet sich gegenwärtig, wie das Schloss, im Besitze der Familie Vieli, doch sollen die Dorfleute um Rhäzüns berechtigt sein, jedes Frühjahr Blüten von derselben zu Tee zu pflücken. Der Besuch der Linde (die von der Eisenbahnstation Rhäzüns in einigen Minuten zu erreichen ist) sollte auch auf das Schloss ausgedehnt werden, dessen Bild am rechten Rande durch die Baumkrone hindurch sichtbar ist. Es steht sehr malerisch auf einem fast senkrecht gegen den Hinterrhein abfallenden Hügelvorsprung. Der ungedämmte Fluss wälzt da unten seine wilden Wasser frei umher und lagert das Geschiebe in seinem breiten Bette bald da, bald dort ab. Das Tal verengt sich gegen Rothenbrunnen hin; auf einem schroffen Felskopf erblickt man den Rest der Ruine von Unter-Juvalta und am bewaldeten Hang ob Rothenbrunnen, diejenige von Ober-Juvaulta. Hinter der Talenge erschaut man im fruchtbaren Domleschg das Schloss Ortenstein auf hoher schroffer Felswand. In Entgegengesetzter nördlicher Richtung breitet sich zunächst zwischen den Dörfern Rhäzüns und Bonaduz eine weite Ebene von Ackerfeld und Wiesen aus, mit der uralten St. Georgs Kirche auf einem Hügel und jenseits des Rheins schliesst das Profil vom Flimserstein bis zum Calanda und der Ciprian-Stamer-Spitze bei Chur das Landschaftsbild ab.

Das Schloss Rhäzüns steht in der Warlinie mit den genannten Burgen im Domleschg und anderseits mit denjenigen von Wackenau, Buvix und Hohen-Trins. Seine Gründung soll weit zurück bis in die Zeiten der Römer reichen. Bei Ausbruch der französischen Revolution befand sich das Schloss im Besitze Österreichs und kam dann vorübergehend an Bayern und Frankreich und nach dem Wienerkongress (1815) an den Kanton Graubünden, der dasselbe an die Familie Vieli veräusserte.(Heute, im Jahr 2014, ist das Schloss Rhäzüns im Besitze der Familie Blocher und die Junglinde steht auf dem Grundstück der Familie Anna Rageth-Vieli, 1926-2018).


Gerichtslinde: Diese grossblätterige Linde (700 Jahre alt) stand bis 1952 am Weg zum Schloss. Tigl da dertgira: Tigl da fegjia greunda steva alla via digl casti tochen 1952 (Sammlung chrsp.)

Auf dem Platz unter der Gerichtslinde wurde folgendes abgehalten: Jegliche politische Volksversammlungen, „Zehntenannahmen, Brotabgaben" („dunn dil paun“), Gerichte, Eidschwüre, Wahlen, Absetzungen, Plädoyers vor Gericht, Rechte und Verbote wurden bekannt gegeben. Die 12 Geschworenen erhielten den Titel „Juratus“ und durften den Titel als „ehemalige Juratus“ bis zum Ende ihres Lebens behalten. Auch noch nach 1819 wurde die Gerichtsgemeinde bis 1854 (kantonale Verfassung) durch den Landrichter vom OB/GB unter der Gerichtslinde etwas angepasst abgehalten. Von da an wurden nur noch Kreis-Versammlungen, Wahlen und Abstimmungen (Tschentada dil cumin circuital) bis anfangs des 20. Jahrhunderts unter der Gerichtslinde abgehalten. (Juratus: vereidigt, Geschworener)

Gerichtslinde- und Zehntenstall

- Die Gerichtslinde und der Zehntenstall
- Organisation der Gerichte
- Renaissance der Gerichtslinde
- Photoreportage zur Junglindepflanzung von 1973

Die Schlossguts-Gebäude (Stallungen, die Zehnten-Scheune, andere Scheunen etc.) befanden sich während Jahrhunderten bis ca. Mitte der 1970er-Jahre etwa 35 m östlich der Gerichtslinde, links der Zufahrt zum Schloss. Es war so angelegt, dass zwischen Linde und Zehntenstall ein Hof bestand, ein Gerichtshof – auch Gerichtsstätte genannt. Unter der Gerichtslinde mussten unter anderem die Dorfweibel aus der Stammherrschaft von Rhäzüns, Bonaduz, Ems und Felsberg den Schwur ablegen. Somit war jeder jeweils in seinem Dorf verantwortlich dafür, selbst zu kontrollieren, dass alle Bauern anstandslos, ehrlich und ohne zu betrügen den Zehnten bei der Gerichtslinde ablieferten.2  M.s.u. 33. Hochgericht Rhäzüns (Gerichtslinde) / Curt da dertgira aulta da Razén sut la pleunta da tigl

Am 30. Dezember 1696 wurden den Stammherrschafts-Dörfern einige Rechte eingeräumt. Unter anderem wurde der Kornzehnte auf den Fünfzehnten reduziert, auch der freitägliche „Dunn dil paun“(Brot abgaben) geht auf diese Vereinbarung zurück.Die arme Bevölkerung von Rhäzüns und Bonaduz erhielt das Recht, jeden Freitag nach der Mittagsglocke, wenn die zweitgrösste Glocke läutet, sich beim Zehntenstall unter die Gerichtslinde zu begeben, um eine Brotgabe oder auch eine solche in Form von Mehl zu fordern. Davon wurde ausgiebig Gebrauch gemacht, sodass die Fünfzehntel-Ausgaben durch die Brotspende ungefähr ausgeglichen wurden.So heisst es etwa in einem Schreiben von 1802, der Kaiser habe seit damals „die Schuldigkeit, alle Freitage denen Fünfzehntpflichtigen von Rhäzüns und Bonaduz Brot auszuteilen, welches ungefähr den Ertrag des Frucht Fünfzehntels aufwiegt“.Das Recht auf die Brotspende erlosch 1819 durch den Übergang der Herrschaft an den Kanton Graubünden.

Heute noch, im Jahr 2019 – also 200 Jahre später –, läutet jeden Freitag nach der Mittagsglocke die zweitgrösste Glocke (Il zenn maseum) und erinnert so an dieses Recht, das bis 1819 bestehen blieb, auch weil der Freitag in Befolgung der kirchlichen Vorschriften früher allgemein als fleischloser Tag galt. (Dieses Glockengeläut wird heute noch mit „die Brotglocke läutet!“ oder auch „die Pizochel-Glocke läutet“ bezeichnet. – Il zenn da bizochels tucha). Möge unser „zenn maseum“ noch lange am Freitag läuten und uns an dieses durch unsere Vorfahren mühsam erkämpfte Recht erinnern. In Bonaduz geriet dieser Brauch in Vergessenheit.6

 
Bild aus: "Graubünden in alten Ansichten". Schriftenreihe des Rätischen Museums Chur. 2002. 1803 Schloss Rhäzüns mit Stallungen / Zehntenstall und Scheunen, von Nordwesten her. Kol. Umrissradierung von Johann Jakob Strüdt (1773-1807)

Entschlüsselung der Zehntenstall-Initialen: Am Sturz der Türrahmen des Zehntenstalles waren Initialen eingeschnitzt. Dies fiel einem aufmerksamen Truppenkommandanten auf. Da er im zivilen Leben von Beruf Historiker war, notierte er sich die Initialen, um sie zu entschlüsseln. Einige Zeit später sandte er der Gemeinde eine Kopie mit der folgenden Entschlüsselung:

Von 1558 bis 1676 blieb der Pfand im Besitz der Familie v. Planta von Wildenberg. (Bei den Wildenberg handelte es sich um eine Plantafamilie, die ursprünglich in Zernez wohnhaft war.) Heinrich von Planta, der Erbauer des Zehntenstalles im Jahr 1670, war der letzte aus sechs Generationen der von Plantas im Schloss Rhäzüns. Seine Initialen und die Jahreszahl 1660 findet man auch auf einer Bodenplatte im 4. Stock des Schlosses, anscheinend seit einer Renovation oder einem Umbau des Schlosses. Es ist ein Glücksfall, dass gerade einem Historiker im letzten Moment die Initialen aufgefallen sind, denn ein paar Jahre später konnte ein Teil des Stalles/ der Scheune der Schneelast vom März 1970 nicht standhalten; so wurde dieser um 1980 durch die örtliche Zivilschutztruppe zurückgebaut und die Stelle mit den Initialen weggeräumt.7

 

Organisation der Gerichte

Wahl der Gerichtspersonen

Kraft der Hoheitsrechte hatten die Feudalherren ursprünglich das Recht, die Beamten innerhalb ihrer Territorien frei zu bestimmen. Als Überrest dieses Bestimmungsrechtes konnte sich ein Vorschlagsrecht der Feudalherren für die Besetzung der Stelle eines Gerichtsvorsitzenden lange erhalten. In der Herrschaft Rhäzüns bestand jedoch eine andere Regelung. Gemäss dem Pompejischen Vertrag von 16. Mai 1615 hatten die Nachbarschaften Rhäzüns, Bonaduz, Ems und Felsberg die Befugnis, drei ehrliche Männer für die Ammannswahl vorzuschlagen und zu wählen. Aus denjenigen, die dann gewählt wurden, konnte der jeweilige Herr von Rhäzüns einen als Ammann bestimmen. Nachdem der Ammann erkoren war, wählten die vier Nachbarschaften das Gericht und die Geschworenen durch Handmehr. Die eine Hälfte musste dabei aus dem unteren (Ems und Felsberg) und die andere aus dem oberen Teil (Bonaduz und Rhäzüns) stammen. Sofern die Nachbarschaften einverstanden waren, konnte auch wie von altersher der Herr Weibel, Rechtssprecher oder Geschworene allein setzen. Auch wurde bestimmt, dass jeder, der 14 Jahre oder mehr zählte, bei Ammann und Gerichtsbesatzung stimmberechtigt sei.

In einem Vergleich zwischen Heinrich von Planta und den Nachbarschaften der Herrschaft von 1662 wurde an der bisherigen Regelung bezüglich der Wahl des Ammannes festgehalten. Betreffend die Wahl der Geschworenen wurde eine neue Regelung getroffen. Aus der Gesamtheit der Herrschaftsleute wurden 12 Geschworene durch das Volk gewählt. Der Herr besass aber das Recht, Weibel und Zusatz allein und ohne Widerrede der Untertanen zu wählen. Gemäss einem Vergleich mit der Nachbarschaft Ems vom 10. Oktober 1664 hatte diese das Recht, den Zusatz allein – ohne Wissen und Gutheissung des Gerichtes – zu wählen. In einer Konvention zwischen Johann Travers und den Herrschaftsgemeinden von 1679 wurde keine wesentliche Änderung in Bezug auf die Wahl von Ammann, Weibel und Geschworene vorgenommen. Nur wurden die Geschworenen wiederum gemäss der alten Regelung bestellt. So hatten sechs aus dem oberen und sechs aus dem unteren Teil zu stammen. Eine weitere Befugnis sicherten sich die Herrschaftsleute, indem sie das Recht erlangten, den Schreiber selbst zu erwählen. Der Zusatz musste von nun an vom Herrn aus zwei aus dem oberen und zwei aus dem Gericht selbst berufen werden. Gleich wie in der Stammherrschaft verhielt es sich auch bei der Wahl des Ammanes in Obersaxen.

Der Feldkircher Vergleich von 1686 beinhaltete betreffend den Zusatz, dass der Herr von Rhäzüns vermög seiner ihm zustehenden Rechte diesen allein berufen könne. Der Rhäzünservertrag von 1696 traf eine Regelung betreffend die Ausstandspflichten: Wenn einer der Gerichtsgeschworenen mit einem Delinquenten befreundet war, hatte der Herr von Rhäzüns zwei aus dem oberen und zwei aus dem unteren Teil zu berufen und diese an die Stelle des befangenen Geschworenen zu setzen. Die Appellazrichter, die es nur in „zivilischen sachen“ gab, konnten die Gemeinden der Herrschaft ohne Mitwirken des Herrn oder dessen Verwalters setzen. Dies folgte daraus, dass die Nachbarschaften das zivile Gericht gemäss alter Observanz alleine wählen durften. Diese Bestimmung entspricht insofern nicht mehr dem Pompejischen Vertrag von 1615, als in jener Zeit ein Herr in Appellazsachen im Grauen Bund einen Gerichtsherrn oder Geschworene bestellen konnte. Die gleiche Regelung galt auch für Obersaxen. Bei der Ammannswahl trat insofern eine Neuerung ein, als die Nachbarschaften von den drei Vorgeschlagenen einen vom oberen, einen vom unteren Teil sowie den Dritten durch Handmehr zu wählen und dem Herrn vorzuschlagen hatten. Über eine grössere Autonomie verfügte Tenna. Dort wurde der Ammann „privative“, d. h. nur von der Nachbarschaft gewählt. Dieser musste jedoch dann im Schloss Rhäzüns den Eid ablegen. Gemäss R. Schwarz soll von den 3 zum Ammann Vorgeschlagenen einer von Rhäzüns, der andere von Bonaduz und der dritte abwechselnd von Ems oder Felsberg ernannt worden sein. Auch soll der Vorschlag dabei in den einzelnen Nachbarschaften gemacht und alsdann dem Gericht mitgeteilt worden sein. In den Verträgen findet man allerdings keine Bestimmungen, die diese Ausführungen bestätigen würden. Gleich verhält es sich auch in Bezug auf die Ansicht, dass das Kriminalgericht sich aus dem Ammann mit 18 Geschworenen aus dem Rhäzünser Zwang, 6 aus Hohentrins und je einem Beirichter aus Obersaxen und Tenna zusammengesetzt habe.8

Zeit der Gerichtsbesatzung

Gemäss Pompejischem Vertrag fand die Gerichtsbesatzung alljährlich am ersten Sonntag im März vor dem Schloss Rhäzüns statt. (Gerichtslinde) In Obersaxen wurde sie gemäss Konvention zwischen Johann Travers und Obersaxen jährlich am Pfingstfeiertag abgehalten. Der Rhäzünservertrag von 1696 sah eine Änderung vor. Da es gewöhnlich anfangs März noch Schnee hatte, konnten die Emser und Felsberger nicht ohne Mühe nach Rhäzüns gelangen. Man vereinbarte deshalb, dass die Gerichtsbesatzung in Zukunft alljährlich am dritten Sonntag im Mai stattfinden solle. Sämtliche Beschlüsse, Urteile und Verfügungen wurden von jeher auf Deutsch verfasst, doch war die Verhandlungssprache Romanisch. Nur mit Rücksicht auf die germanisierten Felsberger und die deutschsprachigen Sculmser erfolgte eine deutsche Zusammenfassung der Ergebnisse.9

Allgemeine Instruktionen an die Gerichtspersonen

An Ammann: Vor der „öffentlichen Gemeinde“ wurde ihm verordnet zu schwören, dass er die Ehre Gottes, der Muttergottes und aller Heiligen sowie Freiheit und Gerechtigkeit des Herrn von Rhäzüns schützen werde. Auch Arme, Witwen und Waisen hatte er zu beraten und zu beschirmen. Wenn bei ihm um Recht nachgesucht wurde, musste er dies „beförderlich“geben. Hatte der Ammann als Richter ein Urteil zu fällen, so durfte er „niemand ansehen, weder fremd noch heimlich, klein noch gross, reich noch arm, damit er nicht vom Weg der Gerechtigkeit verführt werde“. Das Ehreninsiegel der Gemeinde hatte der Ammann in gutem Gewahrsam zu behalten, und Schreiben oder Briefe nicht ohne Wissen und Willen der Obrigkeit und der Parteien zu siegeln. Wenn der Herr von Rhäzüns oder sein Anwalt die Causa begehrte, sollte der Ammann all das, was er wusste, unter Eid angeben. Endlich war der Ammann verpflichtet, all das, was er zu offenbaren hatte, zu offenbaren; was er aber zu verschweigen hatte, sollte er geheim halten und mit ins Grab nehmen. Nachdem dem Ammann die Instruktion vorgelesen worden war, hatte er die Erklärung abzugeben, dass er allem nach bestem Wissen und Vermögen nachkomme. Nach der Beeidigung gab der Ammann den Geschworenen Instruktionen und liess den Eid ablegen, ohne dass die „versammelte Gemeinde“ etwas dazu zu sagen gehabt hätte. Eine gleiche Instruktion wurde auch jährlich dem Ammann von Tenna im Schloss Rhäzüns vorgelesen. Dieser musste, nachdem er die Instruktionen gehört hatte, mit erhobenen drei Fingern schwören, dass er den Anordnungen nachkomme. Auf Obersaxen hatte der sich im Amt befindende Ammann zudem, solange die Herrschaft in den Händen der Travers war, zu allem Bundstagen und anderen Zusammenkünfte als Bote der Herrschaft und der Gemeinden zu fungieren, über das Einkommen der Gemeinde allein Rechnung abzustatten, sowie auch das Gemeindesiegel zu verwahren.10

An Weibel: Ein Weibel hatte alle drei Wochen im Schloss zu erscheinen und auf Befehle des Herrn zu warten. Dafür erhielt er jedes Mal ein halbes Mass Wein und Brot. Ferner war er verpflichtet, auf Befehl des Herrn Gebote und Verbote ohne Lohn auszuführen, sofern ihm ein solcher nicht vorbehalten war. Wenn aber der Weibel über Bonaduz und Rhäzüns hinaus geschickt wurde, gebührte ihm ein kleiner Lohn.11


Spezielle Instruktionen

Gemäss der Traversischen Konvention vom 25. Oktober 1679 waren in Kriminalsachen Ammann, Gericht, Schreiber und Weibel verpflichtet, alle fehlbaren Sachen dem Herrn unter Eid anzuzeigen; vorbehältlich jedoch, dass einer infolge Verwandtschaft dieser Verpflichtung nicht unterstand. Diese gleiche Vorschrift galt auch für die Gerichtspersonen in Obersaxen.

Im Rhäzünservertrag von 21. Dezember 1696 wurde die Bestimmung betreffend die Denunziation (causa) wiederum aufgenommen. Laut einem Cusengerichtsprotokoll vom 10. Februar 1762 war man genötigt, nach 1752 wiederum ein Cusengericht anzusetzen, um sowohl die „Justitia“zu befördern, in den Herrschaftsgemeinden eine gute Mannszucht zu behalten sowie die herrschaftlichen Rechtsamen zu beobachten. Dazu wurde die ganze „Oberkeit“durch den Herrschaftsweibel avisiert und einberufen. In Konformität mit dem Vertrag von 1696 wurde die „Oberkeit“ermahnt, unter Eid all das, was sie selbst wusste oder sonst vernommen hatte, anzugeben. Desax bezeichnet diese Rügepflicht als Ansatz zu einer amtlichen Eruierung und Verfolgung des Verbrechens. Sie bestand ursprünglich insbesondere darin, dass in den Gemeindeversammlungen entweder jeder oder gewisse Gerichtspersonen das Recht und die Verbindlichkeit hatten, die begangenen Frevel zur Anzeige zu bringen.

Wie wir feststellen konnten, hatte man es in der Herrschaft Rhäzüns mit einer auf gewisse Personen beschränkten Rügepflicht zu tun, weil nur diese Personen zur Denunziation verpflichtet waren. Es gilt jedoch festzuhalten, dass diese Denunziationspflicht nicht mit der Eigenschaft als Kläger aufzutreten identifiziert werden darf. Die Gerichtspersonen in der Herrschaft waren nicht Ankläger. Sie hatten vielmehr die Funktionen einer Auskunftsperson. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, sind Ammann, Weibel, und Geschworene bei der näheren Eruierung der Verbrechen und bei der Klageerhebung nicht tätig.12


Funktionen eines jeweiligen Herrn von Rhäzüns

Gebot und Verbot: Wenn jemand einem anderen etwas verbot, so war es nicht Sache des Herrn, ohne dass Recht nachgesucht wurde, etwas zu entscheiden. Handelte es sich aber um ein Verbot, welches von ihm oder von der kaiserlichen Majestät ausging, mussten diejenigen, die gegen dieses Verbot handelten, nach Erkenntnis des Rechts bestraft werden. Der Pompejische Vertrag bestimmte ferner, wenn sich die eine oder die andere Partei über ein Urteil beschwerte, sie nach Bundesbrauch appellieren könne, ohne dass der Herr weiteres Recht zu setzen habe. Dieser Abschnitt bringt nun klar zum Ausdruck, dass der Herr von Rhäzüns in Zivilsachen keine richterlichen Befugnisse hatte.13

Gefangennahme: In der Plantischen Vereinbarung wurde festgehalten, dass ein Herr keine Gewalt haben sollte, jemanden ohne Wissen von Richter und Gericht „ins Gefängnis zu stecken“. Ebenfalls war es dem Richter und Gericht nicht erlaubt, ohne Wissen des Herrn, jemanden gefangen zu halten. Wenn im Rat alsdann darüber abgestimmt worden war, jemanden einzukerkern oder frei zu lassen, sollte es bei diesem Entscheid bleiben. Im Vergleich zwischen Heinrich von Planta und den Nachbarschaften wurde ferner bestimmt, falls gegen Personen Indizien oder Anzeigen vorhanden seien, müsse vor der Gefangennahme vom Inhaber der Herrschaft ein Bericht abgestattet werden. Werde die Erkenntnis dahin lauten, dass die Person gefangen genommen werden müsse, sollte das Gericht die Captur vollziehen, ohne dass darauf Bedacht genommen werden müsse, ob der Herr anwesend sei oder nicht. Bestand aber Gefahr, dass ein Delinquent flüchten könnte, so hatte der Herr das Recht, ohne das Gericht und das Gericht ohne den Herrn, den Übeltäter gefangen zu nehmen und an den richtigen Ort abführen zu lassen. In der Traversischen Konvention wurde keine Abweichung zur früheren Vereinbarung getroffen, in einer Ergänzung aber erläutert, dass niemand befugt sein sollte, ohne Erlaubnis des Herrn zu einer gefangenen Person zu gehen und mit ihr zu sprechen; es sei denn, dass eine entsprechende Bewilligung von Seiten des Gerichtes vorliege. Die gleiche Regelung galt auch für Obersaxen.

Im Rhäzünservertrag von 1696 wurde die Bestimmung betreffend Gefangennahme präziser gefasst: So durfte der Herr keinen Delinquenten in der Herrschaft einkerkern, sondern hatte die auf diesen oder jenen fallenden Indizien dem Gericht zu eröffnen und zuzuwarten, ob das Gericht diese Indizien als genügend erachtete, um jemanden gefangen zu nehmen. Bei Fluchtgefahr konnten aber sowohl der Herr als auch die Gerichtsgeschworenen den Betreffenden einkerkern lassen. Dies musste alsdann sofort dem Gericht angezeigt werden Wir sehen, dass mindestens formell ein Schutz für einen möglichen Delinquenten bestand. Dadurch, dass zuerst das Gericht die Indizien zu prüfen hatte, wurde einer willkürlichen Verhaftung durch den Herrn vorgebeugt.14

Formierung des Prozesses: Die Pompejischen Verträge beinhalten: Falls einer oder mehrere sich verfehlen, der Herr die Gewalt haben sollte, gegen diese zu klagen und eine Strafe nach seinem Gutdünken festzulegen. Wenn dies geschehen sei, solle der Herr abtreten und Richter und Gericht nach ihrem Ermessen strafen lassen. Im Rhäzünservertrag von 1696 findet man die Wendung, dass der Herr zu Rhäzüns bei Formierung eines Kriminalprozesses ohne Stimmrecht dabei sein müsse, um dem Gericht mit Informationen zur Seite zu stehen. Bei Abfassung der Zwischen- oder Endurteile hatte der Herr indes abzutreten.

In diesem Abschnitt sind wir einem wichtigen Grundsatz des Strafrechtes – dem Akkusationsprinzip – begegnet. In der Herrschaft Rhäzüns wurde formell eine klare Trennung zwischen der Anklage und der Verurteilung gezogen. Ankläger waren, bis zur Übernahme der Herrschaft durch österreichische Verwalter, der jeweilige Pfand- oder Lehensinhaber. In späterer Zeit waren es ebenfalls die Verwalter selbst.15

 Folterung: Die Folterung war ein Beweismittel, welches dem Ankläger zustand. Dem Gericht lag nur eine Aufsichtsfunktion darüber ob. In der Herrschaft Rhäzüns hatte der Ankläger, d. h. der jeweilige Herr von Rhäzüns, bei der Tortur entweder selbst dabei zu sein oder jemanden in seinem Namen zu delegieren.16

Gnadenrecht: Begnadigungen findet man auf dem Gebiete des Grauen Bundes in zwei Hauptformen vor. Es gibt eine Begnadigung nach ergangenem Urteil und ein Richten nach Gnade vor ergangenem Urteil. Die Gnade erteilte jedoch immer das Gericht, welches geurteilt hatte. In der Herrschaft Rhäzünshandelte es sichunzweifelhaft um eine Form der Gnade nach ergangenem Urteil, die nicht durch das urteilende Gericht erfolgte, sondern durch den Ankläger, den Herrn von Rhäzüns. So bestimmte der Plantische Vertrag, dass der Herr nach ergangenem Urteil, dieses wohl mindern nicht aber mehren könne. Die Prozessschriften mussten während des Prozesses dem Herrn, so oft er diese begehrte, gezeigt werden. Der Herr von Rhäzüns hatte sodann die absolute Gnade, einen Malefikanten, der zum Tode verurteilt worden war, gemäss den kaiserlichen Rechten zu begnadigen.17

Prozessauslagen: Gemäss dem Plantischen Vergleich war der Herrschaftsinhaber verpflichtet, jedem Rechtsprecher für Lohn und „Zehrung“ im Sommer pro Tag 24 und im Winter 20 Batzen zu bezahlen. Die Traversische Konvention verpflichtete den Herrn überdies, dem Kriminalgericht neben dem Zusatz für Lohn und „Zehrung“ ein gebührliches Salär (wie in anderen Gemeinden des Oberen Bundes) zu geben. Kraft dem Rhäzünserischen Vertrag war der Herrschaftsinhaber schuldig, den Gerichtspersonen ihr Salär zu bezahlen und alle anderen Prozesskosten zu übernehmen. Wenn die Malefikanten, die verurteilt wurden, keine Mittel hatten, sollte der Herr verpflichtet sein, alle Unkosten zu begleichen. Dies galt auch, wenn eine Person, die vom Herrn von Rhäzüns verklagt worden war, durch das Gericht freigesprochen wurde. Da die Saläre der Rechtsprecher in Gemeinen Landen verschieden waren, wurde der Verwalter, Baron von Rost, beauftragt, sich darüber zu informieren und die Saläre nach Billigkeit festzulegen. In einem Urteilbrief zwischen Baron Egidius von Greuth und den Nachbarschaften der Stammherrschaft wurde neu bestimmt, dass die Person, gegen die prozessiert worden war, die Prozessauslagen (Unkosten) selber zu bezahlen habe. Jeder Geschworene hatte ein Salär von täglich 24 Batzen zugute. Falls aber der Herrschaftsinhaber das Salär bezahlte, bezifferte sich dieses pro Tag auf nur 20 Batzen. Bezüglich der anderen Gerichtspersonen liess man es wie bis anhin bewenden und gab eine Mahlzeit als Lohn. Beim Frevelgericht aber durfte jeder Geschworene 16 Batzen fordern. Einem Kundschafter, der von einer Gemeinde in die andere wegen frevelbaren Sachen geschickt worden war, sollten 6 Batzen bezahlt werden. Ein Ortsansässigersollte 5 und ein Gäumer durfte täglich 10 Batzenfür sich in Anspruch nehmen. Bei Partikularzusammenkünften, die einen oder mehrere Geschworene betreffen konnten, war ein Verwalter zu keinen Spesen, ausser dem im Rhäzünser Vertrag bezeichneten, verpflichtet.18

Konfiskationen und Strafen: Ein Herr allein hatte Anspruch auf alle Konfiskationen und Strafen, die von einem Gericht ausgesprochen wurden. Starb ein Verurteilter, so fiel sein Vermögen dem Herrn anheim. Dabei blieben jedoch die Rechte der „beleidigten“(geschädigten) Personen vorbehalten. Diese waren jedoch genötigt, auf dem Zivilwege zu ihrem Recht zu kommen.

Im Rhäzünser Vertrag von 1696 kommt ganz klar zum Ausdruck, dass das Recht zu konfiszieren und Strafen einzuziehen im Zusammenhang mit der Pflicht des Herrn zu sehen ist, für die Prozessauslagen aufzukommen. Obwohl die Nachbarschaften der Jurisdiktion des Herrn unterworfen waren, behielten sie sich laut ihren Statuten, Dorfrechten und Gewohnheiten vor, von denjenigen die ihre Polizei- und Dorfordnungen übertraten, eine Strafe einzuziehen.19

Organisation der Zivilgerichtsbarkeit: Während die Kriminalgerichtsbarkeit stets durch die gesamte Gerichtsgemeinde ausgeübt wurde, sind die Zivilgerichte teilweise auf die Nachbarschaften übergegangen oder durch kleinere Gerichtsbarkeiten ausgeübt worden. Man sah folgende Ursachen dafür verantwortlich: Bequemere Handhabung der Gerichtsbarkeit, Unabhängigkeitsbestrebungen der Nachbarschaften und sprachliche Schwierigkeiten. 

In der Herrschaft Rhäzüns ging die Entscheidungsbefugnis nicht auf die Nachbarschaften oder eine andere organisatorische Einheit über. Die Administration der Justiz verblieb beim Gericht zu Rhäzüns, ohne dass ein Nachteil für die Nachbarschaften entstehen sollte. Auch andere Nachbarschaften hatten diese Administration der Gerichtsgemeinde überlassen. Österreich machte aber geltend, dass die hohen und niederen Gerichte mit allen Herrlichkeiten dem Erzhaus immer ohne Widerrede zugestanden worden seien. Dies alles gehe aus alten und jüngeren Schriften hervor. Wie wir jedoch feststellten konnten, erlangten die Nachbarschaften 1696 das Recht Appellazrichter allein zu wählen, was gleichzeitig eine nicht unwesentliche Konzession des Herrn an die Herrschaftsleute darstellte.

Betreffend die Gerichtspersonen in Zivilfällen bestimmten die Satzungen der vier Nachbarschaften der Herrschaft Rhäzüns vom 22. Juni 1734: Falls einer von einem anderen Schuld forderte, die sich nicht auf 15 Gulden belief, hatte auf Begehren des Klägers ein jeweiliger Landammann oder Statthalter mit Zuzug von 6 Geschworenen zu urteilen. Diese konnten entweder vom unteren Teil, wenn ein Streit sich dort abspielte oder vom oberen, wenn der Streit sich dort ereignete, rekrutiert werden. An der Stelle des vollständigen Gerichtes hatten alsdann diese die Sache zu entscheiden. Jedem Geschworenen wurde dabei nicht mehr als 12 Batzen Salär pro Tag bezahlt. Musste infolge Verwandtschaft ein Zusatz genommen werden, so durften ihm 16 Batzen Lohn, wie vor dem ganzen Gericht, bezahlt werden. Nach ergangenem Urteil erging an die Parteien die Aufforderung zu geloben, dem Urteil nachzuleben, um so mehr als gemäss den Bundesartikeln eine Appellation nicht gestattet wurde, wenn die Streitsumme sich nicht auf mehr als 15 Gulden belief.20

Organisation der Ehegerichtsbarkeit: Aus historischen Gründen fiel die Ehegerichtsbarkeit nicht in die Zuständigkeit der damaligen Zivilgerichte. Bis zum Erlass des 2. Ilanzerartikelbriefes von 1526 wurde sie durch den Bischof in der gesamten Diözese, teils selbst, teils durch Erzpriester ausgeübt. Im genannten Artikelbrief wurde die rechtliche Grundlage geschaffen, um dem geistlichen Gericht die Kompetenz über Entscheidungen in Ehesachen zu nehmen. Die Regelung der Ehegerichtsbarkeit wurde dann stark durch die politische Lage und die religiösen Spannungen infolge der Reformation beeinflusst.

Im Oberen Bund, d. h. auch in der Herrschaft Rhäzüns, wurden die gewöhnlichen Zivilgerichte zugleich als Ehegerichte konstruiert. Durch die gegenreformatorische Bewegung wurde dann das bischöfliche Gericht in Ehesachen wieder anerkannt, wenn zumindest eine Partei, sei es Kläger oder Beklagter, der katholischen Religion angehörte. Eine Ausnahme bildete in der Herrschaft Rhäzüns die Nachbarschaft Felsberg. In der Traversischen Konvention mit Felsberg vom 25. Oktober 1679 war Johann Travers damit einverstanden, dass die Nachbarschaft Felsberg ein eigenes ordentliches Ehegericht wählte. Dieses musste aber wie das ordentliche Gericht besetzt sein und durfte nur über Ehesachen urteilen. Ferner war es ohne Präjudiz für die Hoheit und Jurisdiktion des Herrn und des ordentlichen Gerichtes von Rhäzüns. Die eherichterliche Besatzung in Felsberg wurde nur jedes zweite Jahr abgehalten.21

Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Carls V. (Carolina): Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Carls V. wurde in der Schweiz und in Graubünden abgelehnt. Man führt hiefür politische Gründe an: Man wollte einerseits die im Schwabenkrieg erkämpfte (gerichtliche) Unabhängigkeit vom Reich bewahren und anderseits die eigenen Gerichtsgebräuche und Gewohnheiten nicht aufgeben. Aber wegen der grossen Lückenhaftigkeit des Kriminalrechtes war das Bedürfnis vorhanden, sich an Gemeines Recht anlehnen zu können. Die Geltung des Carolinas wurde eingehend untersucht. Dabei kam man zum Ergebnis, dass die Carolina in den acht Gerichten wegen der österreichischen Gebietshoheit gegolten hatte. Auch in der Herrschaft Rhäzüns wurde die Carolina angewendet. Allerdings konnte man anhand der vorhandenen Quellen nicht genau nachweisen, ob in Rhäzüns die Carolina oder die tirolische Halsgerichtsordnung kraft österreichischer Hoheit zur Anwendung gelangte. In der Kantonsbibliothek befindet sich ein Rechtsbuch von Rhäzüns, das „Erläuterungen über Theils, Titel und Buecher Tirolischer Landsordnung von 1752“enthält.

In einem Hexenprozess von 1654 wurde angeführt, dass die Delinquentin Anna Plasch vor Gericht bekannt habe, mit dem Teufel, den sie bald „Belzenbuob“, bald „Schwarzcasper“ nannte, Unzucht getrieben zu haben. Der Amtskläger „clagt derohalben uf leib ehr und guot, dass sie solle wie billich nach luth kaiserlichen rechten gerichttet werden“. Einen gleichen Wortlaut haben wir auch beim Gnadenrecht des Herrn angetroffen. Der Herr von Rhäzüns hatte das Recht, einen zum Tode Verurteilten, gemäss den „kaiserlichen Rechten“ zu begnaden. Man meint, dass unter „kaiserlichem Recht“ nur das Carolina gemeint sein könne. Er glaubt ferner, dass durch die österreichischen Administratoren die tirolische Landesordnung als Landesgesetz eingeführt worden sei. Das unvollständige und veraltete Kriminalrecht sei dann durch die Constitutio Criminalis Carolina sowie eventuell den Kommentar Frölichs ergänzt worden. Eine solche Berücksichtigung der beiden Rechtsquellen würde auch der Rechtspflege in österreichischen Landen am meisten entsprechen.

Nach dem Gesagten ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu schliessen, dass die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Carls V. in der Herrschaft Rhäzüns zur Anwendung gekommen ist. Um das mit Sicherheit zu wissen, müsste man die Gerichtspraxis konsultieren. Da jedoch keine Urteile aufgefunden wurden, die konkrete Hinweise auf eine eventuelle Anwendung gegeben hätten, kann diese Frage nicht ganz schlüssig beantwortet werden. Ein Indiz, das für die aufgestellte These spricht, ist die Tatsache, dass in den uns bekannten Rechtsquellen nur leichtere Fälle, die bürgerliche genannt wurden, geregelt worden sind. Es versteht sich deshalb, dass für die schwereren Fälle eine zusätzliche Kriminalordnung bestehen musste. Das Carolina war eine Ordnung, die nur peinliche Missetaten wie Mord, Verrat, Vergiftung, Münzfälschung etc. regelte.23

 

Renaissance der Gerichtslinde

Aus eine Bündner Zeitung vom April 1973 (Bericht von Otto Anton Vieli Rudolf (1905 - 1989): 

"Wohl könnte etwa die Meinung vorherrschen, wieso man eine Baumpflanzung solchen Wesens mache!

Nun, es handelt sich nicht um einen x-beliebigen Baum an einem x-beliebigen Platz. Am gleichen Platz, wo am 30.3.1973 durch die Schuljugend von Rhäzüns und Bonaduz eine junge Linde gepflanzt wurde, stand noch vor 20 Jahren die mehrhundertjährige Gerichtslinde, ein selten schöner Baum von 27 Meter Höhe und 25 Meter Durchmesser. Nach einem Unwetterschaden musste sie 1952 gefällt werden und lieferte 49 Kubikmeter Holz, also soviel wie 20 ausgewachsene Tannen. Die Linde war aber nicht nur souverän und von weither sichtbar, sondern sie stand auf einem historischen Platz, am Brunnen vor dem Tore zum Schloss Rhäzüns, am alten Landsgemeindeplatz von Rhäzüns, Bonaduz und Ems. Hier an dieser Stätte wurde wohl manches gewichtige Wort gesprochen, manche gute oder auch weniger gute Tat beschlossen. Sekundarlehrer Roman Tschalèr hatte wohl Recht, wenn er in seinem vortrefflichen Vortrag insbesondere zur Schuljugend von Rhäzüns und Bonaduz sowie den zahlreichen Gästen kurz das Geschichtliche um diese Gerichtslinde erläuterte. Er legte dar, wie untrennlich die Gerichtslinde mit der Geschichte des Schlosses Rhäzüns verbunden war und wenn man logisch überlegt, war diese Stätte bzw. das Schloss Rhäzüns die Geburtsstätte von Graubünden. 

Was Wunder also, dass dieser Lindenpflanzung am vorletzten Freitag durch die Jugend der nötige festliche Rahmen verliehen wurde. Mit Begeisterung waren die Jungen dabei, den schon kräftigen Jungbaum einzupflanzen. Auch die anwesende Prominenz von Rhäzüns, Bonaduz und Domat/Ems als Vertreter der Behörden schaufelte etwas Erde herbei. Zum Schluss sangen die Schulkinder ein eigens zu diesem Zweck von Lehrer Sep Antoni Muoth in romanischer Sprache komponiertes Liedchen. Ein Gruss an unsere, an die neue Linde. Ja! Es soll Eure Linde sein, die Linde der Jugend, der kommenden Generation. Mögen alle Sorge dazu tragen, damit sie wachse und gedeihe und so gross werde, wie die ehemalige Gerichtslinde.

Als Dank für geleistete Arbeit offerierte das Schloss Rhäzüns sowohl den Schulkindern als auch allen Gästen ein z`Vieri und alles marschierte unter Trommelschlag in den Schlosshof, wo bald ein munteres Treiben herrschte. In der gemütlichen Bauernstube des Schlosses wurde die vertragsrechtliche Seite der Anstösser und Landbesitzer des Lindenplatzes notariell besiegelt. Allen denen, die mitgemacht und mitgeholfen haben, möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen, denn sozusagen im Schatten der alten Linde habe ich meine Jugend verbracht und schöne Erinnerungen werden wach. Ach, war das eine Pracht, wenn im Frühling zur Blütenzeit Millionen von Bienen dessen Nektar sammelten. Weitherum duftete es herrlich und die Dorfbevölkerung von Rhäzüns pflückte jedes Jahr Körbe von Lindenblüten zu Tee und kurierte damit biologisch ihre Erkältung. Otto Anton Vieli-Rudolf (1905-1989)" 24

Zusatz zur Gerichtsorganisation / Supplement: tier l`organisatium da dertgira.

 

Statthalter: Ein Statthalter ist ein ständiger Vertreter eines Staatsoberhauptes bzw. einer Regierung in einem bestimmten Teil des Staatsgebiets. Die Funktion eines Statthalters kann man heute ungefähr mit jener eines Departement-Sekretärs oder Gemeindeschreibers vergleichen. Der Titel „Statthalter in Rhäzüns“ stammte ursprünglich aus der Herrschaft Rhäzüns, aus der Zeit, als die Herrschaft im Oberen Bund mit dem Hochgericht unter österreichischer Regentschaft stand.

Nach dem Übergang  der Herrschaft Rhäzüns an den Kanton Graubünden und die Schweiz im Jahr 1819 blieben die Titel sowie die Funktionen des Statthalters, des Juratus und des Landammanns in der Gemeinde Rhäzüns im Grauen Bund bis im Jahr 1851 erhalten.(1851: Einführung von Kreisgerichten) 25 M.s.u. 32. Verwaltung und Politik

 

1952: Die Gerichtslinde vor dem Fällen 

    
1951: Photo von Walter Brunett, Sohn von Jakob Brunett. Die Baumfäller von l. n. r.: Jakob Brunett (1914-2002, Realta), Anton Spadin-Bernasconi (1915-1986 Rhäzüns), Peter Spadin-Sosio (1925-1993 Rhäzüns) 

Photoreportage zur Junglindepflanzung von 1973


1973: Die Schuljugend von Rhäzüns im Anmarsch. (Sammlung chrsp.)


1973 geladenen Gäste. (Sammlung chrsp.)


1973 Ansprache von W. Grob, Direktor der Emser Werke, an die Schuljugend (Sammlung chrsp.)


1973 Aufrichten der jungen Linde (Sammlung chrsp.)

   
1973 Die Schuljugend an der Arbeit. (Sammlung chrsp.)

   
1973  Die Linde ist eingepflanzt (Sammlung chrsp.)

 
1973 Ansprache von Sekundarlehrer Roman Tschalèr (Sammlung chrsp.)


1973 auf dem Weg zum Schloss (Sammlung chrsp.)


1973 im Schlosshof (Sammlung chrsp.)

      
1973 wohlverdienter z'Vieri (Sammlung chrsp.)

 
1973 von l. n. r.: W. Grob, Direktor der Emser Werke, Gemeinde-Kanzlist Chr. Derungs, Gemeinde-Präsident Lorenz Tschalèr-Willi, Grundbuchführer Lorenz Rageth vom Kreis-Grundbuchamt Ems, Grundbesitzerin Anna Rageth-Vieli. In der gemütlichen Bauernstube des Schlosses wird der vertragsrechtliche Schutz der jungen Linde durch die Anstösser und die Besitzer des Lindenplatzes notariell besiegelt. (Sammlung chrsp.)


2019 Die Junglinde gedeiht prächtig