27. Zeit der Reformation und der Gegenreformation in den Drei Bünden

Aus der Stammherrschaft Rhäzüns nahmen Felsberg 1535 – unter dem Einfluss des benachbarten Chur – und Sculms 1634 – unter dem Einfluss des Safientales und des benachbarten Versam – die Reformation an. M.s.u. 36. Abtrennung von Sculms

Während früher vom Zeitalter der Reformation und Gegenreformation gesprochen und damit der Gegensatz zwischen den zwei Konfessionen betont wurde, werden heute diese Phänomene in einen allgemeineren religionsgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet. Die Glaubensvorstellungen wandeln sich von 1500 bis 1800 fundamental, indem etwa dem Wort (Predigt, Katechese) grössere Bedeutung gegenüber Sakramenten und magischen Handlungen beigemessen wird. Zudem findet eine Normierung des Alltags statt (Sozialdisziplinierung), zu der die allgegenwärtige Präsenz der Kirche als Institution beiträgt.

Am Anfang steht die Entwicklung hin zur vorkonfessionellen Gemeindekirche. In den Ilanzer Artikeln von 1526 setzen die Gemeinden das Recht der freien Pfarrerwahl durch. Ferner erklärt der „Bundstag“ die Konfessionsfreiheit, was zu lang anhaltenden Spannungen und zur Aufteilung vieler Kirchgemeinden führt. Mit den Ilanzer Artikeln wird die bischöfliche Macht stark ausgehöhlt. Das Hochstift wird zum Spielball der adligen Faktionen: Bistum und Kapitel sind desorganisiert. Da die Kirchenvermögen an die Stifter rückerstattet und nicht wie anderorts vom Staat eingezogen werden, ist die materielle Basis der reformierten Kirche schmal.1(Zum letzten Satz siehe folgende zwei Urkunden-Auszüge aus Rom)

"28. Februar 1570 (STAGR 1/Nr. 1669) Bulle Papst Pius' V. für Dr. Johann v. Planta, Herrn zu Räzüns: Vollmacht, alle kirchlichen Pfründen im Bistum Chur und in den Untertanenlanden, die durch die Reformation der katholischen Kirche entfremdet wurden, an sich zu ziehen, vor allem auch die Güter des Klosters zu Bendern, bzw. St. Luzi." Deutsche Übersetzung. Hand des Churer Stadtschreibers Daniel Gugelberg v. Moos. Kopie des latein. Originals im STAGR (Sig. A I/18a, Nr. 81). – Abgedruckt: Campell II S. 517 ff; de Porta II S. 561 ff. Regest: Jenny, Urkunden-Regesten STAGR Nr. 854, mit vielen Hinweisen. – Das richtige Datum lautet 1571, nicht 1570; vgl. dazu Mayer J. G., Hinrichtung des Dr. Johann Planta, Herrn von Räzüns, Anzeiger für schweiz. Geschichte, Neue Folge, 5. Bd. (1886-1889), S. 195 ff. Siehe ferner Campell II, Cap. 71-73 (S. 516 ff); Bullinger-Korrespondenz III Nr. 254 und zahlreiche weitere Stellen; Ardüser S. 46 ff; Sprecher, Chronik S. 213 ff; de Porta II Cap. XXI (S. 558 ff); Kind S. 177 ff; Bott J., Dr. Johann Planta und seine Zeit, Beilage zum Programm der bündn. Kantonsschule, 1873; Mayer II S. 196 f; Valaer Michael, Johann von Planta, Diss. Zürich 1888." Bulle (lat.): mittelalterliche Urkunde; feierlicher päpstlicher Erlass; die Goldene Bulle.

"20. März 1572 (STAGR 1/Nr. 1779) Geleitbrief des Gotteshaus- und Zehngerichtenbundes für Dr. Johann v. Planta, Herrn zu Räzüns, der sich in Chur vor Gericht zu verantworten hat wegen der ihm vom Papst Pius V. übersandten Bulle." Original. Hand des Churer Stadtschreibers Daniel Gugelberg v. Moos.Oblatensiege der Stadt Chur. Rückseite: Kurzregest von der Hand des Landschreibers Regett v. Capolt. - Vgl. Valaer Michael, Johann von Planta, Diss. Zürich 1888."M.s.u. 56. Verschiedene Geschichten

Die Verbesserung der geistlichen Versorgung und die zentrale Stellung der Vermittlung von Gottes Wort gegenüber den Sakramenten (auf Taufe und Abendmahl beschränkt) sind Hauptanliegen der Reformation. Eine verbindliche evangelische Glaubensformel (reformierte Orthodoxie) wird aber erst ab den 1770er-Jahren durchgesetzt. Die Hauptstützen der Bündner Kirchenorganisation, die evangelisch-rätische Synode und die regionalen Kolloquien, betätigten sich auch politisch und vertreten zunehmend radikale Anliegen (Thusner Strafgericht 1618).

Aufgrund der Schwäche des Bistums kommt in katholisch-Bünden der Vollzug der Reformbeschlüsse des Konzils von Trient (1545-63) nicht voran. Erst im 17. Jahrhundert bekommt die Reform eine eigenständige Dynamik: Der Bischof setzt die Ehegerichtsbarkeit durch, präsentiert wieder Kandidaten für Pfarrstellen, führt Visitationen durch, vollzieht Firmungen und Weihungen und schlichtet innerkirchliche Konflikte. Das Verbot der Aufnahme von Novizinnen und Novizen lähmt die meisten Klöster; einzig Müstair/Münster und Muster/Disentis weisen in der Folge eine Kontinuität auf. Da Mangel an Weltgeistlichen herrscht, wird rund ein Drittel der Stellen mit Kapuzinern besetzt, die auch aktiv an den (erfolglosen) Rekatholisierungsbemühungen in den Bündner Wirren beteiligt sind. Die Gemeinden beider Konfessionen führen in ihren Statuten den Gottesdienstzwang ein. In der religiösen Praxis treten neue Formen auf (Kirchengesang, Buss- und Bettage bei den Reformierten, Heiligung lokaler Feiertage, neue Bruderschaften, lokale Wallfahrten, Durchsetzung der Beichte bei den Katholiken). Ferner werden Taufe und Heirat verkirchlicht, und Konsistorien wachen über die Disziplin der Gemeindemitglieder.  

Graubünden gehört mit über 500 Prozessen vor allem in den Jahrzehnten nach den Bündner Wirren zu den von der Hexenverfolgung am stärksten betroffenen Gebieten Europas; die Opfer sind meist Frauen. Die Konfessionalisierung führt zum (auf dem Land rudimentären) Ausbau des Schulwesens im 17. Jahrhundert (Volksschule, bischöfliches Seminar) und fördert das Aufkommen volkssprachlicher Texte (Bibel, Katechismen, Lieder- und Gebetbücher), womit auch das Deutsche zurückgebunden wird. Das Gewicht der Konfessionskirchen wird im 18. Jh. gemindert durch Aufklärung und aufgeklärten Spätabsolutismus. Ausserhalb der Konfessionen entsteht im 18. Jh. wie anderorts eine frühbürgerliche Öffentlichkeit mit zahlreichen Gesellschaften (Patrioten).3

„Der Protestantismus hat auf lange Sicht geholfen, das Leben Europas moralisch zu erneuern, während sich die gereinigte (katholische) Kirche zu einer politisch zwar schwächeren, moralisch aber stärkeren Institution, als sie zuvor gewesen war, entwickelt hat. Heute hat sich der Lärm und Rauch der Schlacht verzogen, aber eine Lehre ist geblieben: eine Religion gibt dann ihr Bestes, wenn sie im Wettstreit mit andern Religionen leben muss; bleibt sie unangefochten und macht niemand ihr die Herrschaft streitig, so droht ihr die Gefahr der Intoleranz. Als ihre grösste Gabe hat die Reformation Europa und Amerika das wetteifernde Nebeneinander der Bekenntnisse beschert, dass sie alle zur Hergabe ihres Besten zwingt, sie vor Intoleranz bewahrt und unsern irrenden, strebenden Geist anspornt, sich in Freiheit zu bewähren“.4  

Die Diaspora-Gemeinde Rhäzüns: Erstmals wurde die Diaspora Rhäzüns im Kolloquium ob dem Wald im Jahre 1945 erwähnt. Anfangs der vierziger Jahre des 20sten Jahrhunderts gab es drei reformierte Familien in Rhäzüns. Familie Fritz Berger-Neff (Sägereibetrieb), Familie Fritz Lötscher und Familie Steger. Während zwanzig Jahren, von 1953 bis 1973, wirkte Fritz Berger als Vertretung der Diaspora Rhäzüns im Kirchgemeindevorstand in Tamins. Zeitweise übte er auch das Amt des Vizepräsidenten aus. Wie in Rhäzüns gab es auch in Bonaduz besonders von Beginn der neunziger Jahre bis heute im Jahr 2016 einen regen Zuzug von Reformierten.5

 
2016: Evangelische Kirche der Kirchgemeinde Tamins-Bonaduz-Rhäzüns. In einer Linie im Hintergrund Kirche Bonaduz, Dorfkirche Rhäzüns, Kirche St. Paul Rhäzüns (Sammlung chrsp.)