4. Entwicklung der Land- und Volkswirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (2. Teil)
Die Entwicklung der Rhäzünser Landwirtschaft in Zahlen
1930: Giacum Anton (Tuni Caluster) Spadin (1907-1986) trainiert einen Jungochsen für das Zuggespann (als Zugtier) (Sammlung chrsp.)
1945: Julius Fidel Anton (Juli) Vieli- Dedual (1896-1968) beim Zehntenstall (Sammlung chrsp.)
1935: Veronica Spadin-Caliezi (1880-1963) Spetga sil curé (cumar) (Sammlung chrsp.)
Klein- oder Grossbetrieb: Vom Betriebstyp her gab es unter den Klein- und Grossbetrieben kaum Unterschiede, denn die grösseren wie auch die kleineren Selbst- versorgungsbetriebe waren alle vielseitig in der Haltung verschiedener Tierarten und verschiedener Kulturen ausgerichtet. Vor allem in den romanischen Gemeinden wie Rhäzüns und andere Dörfer in dessen Umgebung waren die Felder klein parzelliert, was den kleinen Selbstversorgungsbetrieben im Nebenerwerb entgegen kam, auch später bei der Erbteilung. Die einheimischen sesshaften Familien von Rhäzüns besassen fast alle ein paar Parzellen Boden sowie Haus- und Ökonomiegebäude, so dass die Selbstversorgung mehr oder weniger für Alle zum Leben genügte. Ansonsten wurden untereinander auch Tausch-Geschäfte gemacht. Für die Bürger-Familien, die kein oder zu wenig Land besassen, konnte die Bürgergemeinde auf dem Tarmuz einen Komplex von rund 13 ha an Bürgerlösern anbieten. Die Löser waren etwa 10 bis 15 Aren gross parzelliert. So konnten die Familien bei der Bürgergemeinde für eine Pacht von Lösern ein Gesuch stellen. Das Gesuch wurde geprüft und mit einigen Auflagen (gute Bewirtschaftung, Pachtzins etc.) konnte man für Fr. 5.- bis 10.- Pachtzins pro Los und Jahr pachten.
Da um die Mitte der 1960er-Jahre die Selbstversorgungsbetriebe sich nach und nach auflösten, wurde der ganze Komplex vom Tarmuz zu einem ortsüblichen Pachtzins an interessierte Bauern verpachtet. Die Eigentümer der kleinsten Betriebe besassen 1 bis 3 ha Land – etwas Ackerland für den Anbau von Kartoffeln und Getreide, einen Garten für den Gemüse- und Obstanbau sowie Wiesland. In der Tierhaltung wurden nur Nutztiere gehalten: Pferde, Rindvieh, Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Kaninchen und Bienen. Für die grösseren Betriebe diente das Pferd als Zugtier, die Kleinbetriebe hielten einen Ochsen oder eine Kuh als Zugtiere. Man nutzte die Kuh vierfach aus, nämlich erstens als Zugtier-Gespann, zweitens für die Milch-Produktion, drittens für die Fleisch-Produktion und viertens für die weitere Zucht (die Kuh bringt jedes Jahr ein Kalb zur Welt). Familien, die eine Kuh besassen, waren mit Nahrung gut versorgt. Die Kleinbetriebe waren und sind heute noch stets auf Zuerwerb angewiesen.
Fam. Caduff-Camenisch, Via Baselgia (Sammlung chrsp.)
Jahrhunderte lang wurden Tiere nicht nur als Nahrungslieferant gehalten, sondern auch als Helfer des Menschen. Im Kanton Graubünden, mit den wichtigen Durchgangsrouten auf der Nord-Süd-Achse, wurden sie in grosser Zahl im Transportgewerbe eingesetzt. Seit dem Strassenbau waren es hauptsächlich Ochsen und Pferde für den Warentransport mit Karren und dann vor allem die schnellen Pferde für den Reiseverkehr, bis die Bahn 1896 und ab 1925 das Auto ihre Ablösung erwirkten. Auch wenn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Pferd verstärkt eingesetzt wurde, änderten sich die Transport- und Arbeitsmittel erst mit der Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg radikal. In den Bauperioden 1818-1823 (Kantonstrasse) und 1890-1896 (RhB-Linien) wurde sämtliches Material mit Tiergespannen antransportiert.
1948: Pieder Caminada, Transport mit Pferd nach Chur, Grabenstrasse (Sammlung chrsp.)
Photo Archiv C. Guler: So streng waren bis 1925 die Sitten auf den Bündner Strassen. Nur mit vorgespannten Pferde durften Autos zirkulieren. (Sammlung chrsp.)
Zeitzeugen berichten über die Entwicklung der Wirtschaft von 1880 bis 1920
Die Einwohnerzahl lag zwischen 500 und 550.
Nachfolge-Sicherung der hauptberuflichen Bauern: In Rhäzüns war es bei den Bauernfamilien Brauch, dass der älteste Sohn als Nachfolger den Bauernhof übernehmen sollte, wenn das Interesse vorhanden war. Wenn nicht, dann kam der zweitälteste oder drittälteste usw. in Frage. Er sollte eine Frau heiraten und Kinder bekommen. Für die anderen erwachsenen Kinder war es bei einigen Familien bis anfangs des 20. Jahrhunderts üblich, dass die Eltern mit anderen Eltern oder mit dem örtlichen hochw. Herrn Pfarrer über das Heiraten berieten, welche Kinder wen heiraten sollten und wen nicht. Den erwachsenen Kindern wurde das Heiraten nur empfohlen, wenn beide Elternpaare genug Vermögen aufbringen konnten oder wenn der (männliche) Anwärter eine Arbeit mit einem sicheren Einkommen verrichtete, das genügte, um eine Familie zu gründen. Allen, die kein oder zu wenig Vermögen hatten, empfahl man ledig zu bleiben, um die verheirateten Geschwister, anderen Verwandten und auch die Nachbarn zu unterstützen. (Es kam also Heiratszwang vor.)
Die Bäderkultur stand in der Jugendstil-Zeit um 1880 in Graubünden einst in Hochblüte, wie auch in der übrigen Schweiz ein neuer Wirtschaftszweig entstanden war. Vor allem Fremde entdeckten die Alpen als Erholungsraum und bereiteten damit den Weg für deren touristische Erschliessung. Nebst den Naturschönheiten entdeckte man verschiedenenorts Mineral- und Thermalheilquellen. Die Heilquellen – wie der Name schon sagt – wurden von Ärzten wegen ihrer Heilwirkung gegen alle möglichen Krankheiten empfohlen. Nun ging es nur noch ums Nutzen der Thermalheilquellen. Es entstanden Kurorte, die im grossen Stil aus den Heilquellen „schöpften“, – mit kompletten Hotelanlagen und Bade-Thermalheilstätten. Zur selben Zeit kamen wegen der gesunden Höhenluft (dies wurde zumindest behauptet) auch Höhenkurorte mit Sanatorien und Kliniken auf.
Die jungen Leute, die zwischen 1880 und 1914 auf Arbeitssuche waren, fanden zum Teil in ihrer Wohnnähe eine bisher unbekannte Arbeit. Anfänglich gab es vor allem auf die Sommersaison beschränkte Anstellungen, später allmählich auch im Winter mehr Arbeitsgelegenheiten. Diese neue Branche brauchte recht viel Personal, das zu dieser Zeit entsprechend gut bezahlt wurde. Viele Rhäzünsertöchter und -Söhne stiegen in die neue Kur- und Tourismusbranche ein. Zwischen den Saisonen kehrten die Saisoniers mit Geld nach Hause zurück und unterstützten die Eltern, Verwandten und zum Teil auch die Nachbarn nicht nur finanziell; sie halfen zwischen den Saisons mit Rat und Tat mit und engagierten sich im Sozialen, bis die nächste Saison wieder losging. Von den Vorfahren hörte man früher oft folgende zwei Sätze: „Familien, in denen ein Familienmitglied als Saisonier in der Hotellerie arbeitet, haben immer mehr Geld“. „Die ledig gebliebenen Kinder waren damals die Lebensversicherung der Eltern“. Einige junge Männer zog es in die Fremde, nach der deutsch- oder französichen Schweiz, auch in die nahen Länder wie Frankreich und in die norditalienischen Städte sowie nach Amerika. M.s.u. 39. Ein- und Auswanderung.
Entstehung neuer Arbeitsplätze in Rhäzüns für den Bau der Kantonsstrasse zwischen 1818-1823, sowie auch nachhaltend für den Unterhalt (Reparieren, Instand- stellen und Schneeräumung etc.).
1849: Gründung und Inbetriebnahme der Schweizerischen Post. Die Post brauchte Posthalter, Briefträger und Postkutscher, die sich zum Teil als Pferdetransport- Unternehmer selbständig machten.
Pferdepost, Ortschaft unbekannt
1870: Gründung und vor 1878 Inbetriebnahme einer Sägerei und Kornmühle durch Mauritius Theodorus Vieli-Pitz (1830-1900). M.s.u. 46. Dorfsägerei und Kornmühle
1896: Am 1. Juli 1896 erfolgte die Einweihung und Inbetriebnahme der Teilstrecke Chur – Rhäzüns – Thusis der Rhätischen Bahn (Via fier rätica). Den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung spürte man bald bei den Anschlussstationen wie in Rhäzüns. Es gab nicht nur Arbeit während der Entstehung der Teilstrecke, sondern es blieben auch einige, ganz neue und nachhaltige Arbeitsstellen, so z. B. der Stationsvorstand, Bahnbeamte für den Unterhalt, Bahnkontrolleure, Bahnwärter, Kramper usw.
Es begann für viele Kleinbauern eine neue Ära, nämlich ein Zuerwerb beim Staat. Die Kleinbauern hatten einen verlässlichen Vertragspartner, der ihnen jährlich einen sicheren Verdienst einbrachte. Das waren zu dieser Zeit sehr begehrte Arbeitsstellen (so genannte Lebensstellen). Am Haus der RhB-Bahnstation Rhäzüns, auf der Seite Richtung Geleise, steht folgender Spruch auf Romanisch geschrieben: „Lavur dat peun e honur“ / „Arbeit gibt Brot und Ehre“.
1903 RhB Rhäzüns (Sammlung chrsp.)
Für die Bevölkerung war es bis dahin unvorstellbar, am gleichen Tag mit der RhB bis nach Chur zur Arbeit oder zur Schule, hin und zurück, zu pendeln, wie auch die Vorstellung, am gleichen Tag nach Zürich und zurück reisen zu können. Das war ein grosser Fortschritt. Durch den Anschluss der RhB von 1896 wurden die Rhäzünser angespornt, die bestehenden Nebengewerbe zu expandieren und neue Firmen zu gründen. Man konnte von einem Tag auf den andern Material und Maschinen von weit her anliefern lassen. Umgekehrt konnte die Sägerei Schnittholz jeder Art weit über die Region hinaus versenden.17
Schicksalsschlag: In der Zeit, als die Wirtschaft am Aufblühen war, wurde die Rhäzünse-Dorfgemeinschaft durch schweres Brandunglück, nämlich zwischen 1898/99 und 1902/03 von vier Feuersbrünsten heimgesucht, nachdem sie ehedem seit Menschengedenken davon verschont gewesen war. Wo Glück und bescheidener Wohlstand gewohnt hatten, zogen nun bittere Nöte ein. Unverschuldet – aus unbekannten Ursachen und Gründen – sind viele Familien in Sorgen und trauriges Elend geraten. Total sind 35 Wohnhäuser und 32 Ställe, Scheunen und Nebengebäude niedergebrannt.
Laut einem Zeitungsbericht wurden 71 Familien und ca. 200 Tiere obdachlos. Die geschädigten Leute hatten kaum Zeit, um dem vergangenen Glück nachzutrauern. Der Wiederaufbau wurde sofort eingeleitet. Jede/-r half unbezahlt jedem/-r. Die Bevölkerung rang sich das Äusserste an Einsatz ab, nebst dem Aufräumen der Brandstellen und dem Wiederaufbau der Häuser und Ställe, musste auch die tägliche Arbeit mit dem Vieh und auf dem Feld verrichtet werden. Es konnte nur der Reihe nach mit dem Wiederaufbau dort begonnen werden, wo die Finanzierung zugesichert war. Die geschädigten Leute bekamen nicht nur Hilfe aus der Verwandtschaft und Nachbarschaft, sondern auch aus den Nachbargemeinden. Für die Brandgeschädigten wurde eine Kollekte eingeleitet. Es gingen Spenden aus der ganzen Schweiz ein durch den „Hilferuf für die Brandgeschädigten von Rhäzüns“.18 M.s.u. 14. Feuersbrünste
1902: Im Jahr 1902 gründeten die Gebrüder Camenisch, Silvester Viktor und Johann Peter, ein Baugeschäft. Die neue Firma florierte von Anfang an, sie konnte zeitweise in den Sommer-Monaten bis zu 80 Leute anstellen.
1902: Ebenfalls im Jahr 1902 übernahm Jacob Michaelis Fetz-Disch (1844-1912) käuflich die Sägerei und Kornmühle aus der Erbschaft von M. T. Vieli-Pitz. Später baute er sie weiter aus, mit einer Schreinerei, Zimmerei, Stiel- und Kistenfabrik. Der jüngste Sohn Carl Fetz-Cerletti (1889-1968) liess sich als Architekt ausbilden und übernahm um 1915 die Abteilung Schreinerei u. Zimmerei und produzierte !xfertige Chalet-Häuser, in Rhäzüns stehen deren acht. Gleichzeitig, um 1915, übernahm die Firma Paul Balthasar Vieli-Reichlin & Cie. (1865-1933) die Abteilung Sägerei, Kornmühle, Stiel- und Kistenfabrik; die beiden Firmen beschäftigten zeitweise bis zu achtzig Personen. Um 1920 wurde die Sägerei mit einem Bahngeleise zur RhB-Station Rhäzüns versehen. M.s.u. 46. Geschichte der Dorfsägerei und Kornmühle.
Die Gemeinde besitzt 580 ha Wald und rund 100 ha sind in privatem Besitz. Die Rhäzünser konnten das Holz an die in unmittelbarer Nähe stehende Sägerei verkaufen. Die Gemeinde stellte 15 bis 20 Waldarbeiter an und liess im Winter je nach Bedarf im grossen Stil das Holz schlagen und aufrüsten. Für das Holzfuhrwerk richteten sich ein paar Bauern auf einen Nebenerwerb ein, anfangs noch zum Teil mit Kuh- und Ochsen- Gespannen, später wurde dann verstärkt das Pferd eingesetzt. Die Waldarbeiter konnten von Frühjahr bis zum Spätherbst in der Zeitperiode von 1897 bis 1920 für die Gemeinde die Waldwege erstellen. Für den Unterhalt der Wege wurden ein bis zwei neue Arbeitsstellen (Wegmacher) geschaffen, die dann anfangs der 1970er-Jahre wieder abgescha#t wurden. Die Wege wurden auf den Pferdetransport ausgerichtet; bei einem mittleren Gefälle von ca. 15%, wurde das Holz grösstenteils bis zur Talebene am Boden als Mittel zur Bremsung nachgezogen. An drei Stellen kurz vor der Talebene in Mulegn sura, Vegnas und Figiu hatte man einen Aufzug errichtet, um das Holz hochzuziehen, das man am Boden nachgezogen hatte; so konnte man mit dem Wagen vorfahren und das Holz auf den Wagen laden. Der Aufzug wurde „la Trilla genannt“.
1950 Rhäzüns, Via Vegnas „La Trilla“/Aufzug erkenntlich Bild unten links (Sammlung chrsp.)
So entstand eine ganze Reihe von Gewerben als Nebenerwerbe. Zum Beispiel gab es einen Hufschmied, der wusste wie man Nägel mit Köpfen machte für die Herstellung von Wagen-Schlitten und Werkzeugen, einen Wagner, Sattler, Schärfer für die Sägerei und einen Lederseilmacher (zopfmässig. Tertschè terschola da tgirom) für die Fuhrbinderei. Weitere Gewerbe waren eine Metzgerei, zwei Schuhmacherwerkstätten, eine Schneiderei, eine Bäckerei; weiter entstanden 6 Gasthäuser, der Konsumverein, die Sennerei-Genossenschaft sowie die Braunviehzuchtgenossenschaft. In diesen Jahren wurden viele Vereine und Genossenschaften gegründet. Die Dorfwirtschaft florierte. Es scheint, als hätten die Leute einander angesteckt und alle eine Marktlücke gesucht, um sich in irgendeinem Gewerbe selbständig zu machen.
1909: Rhäzüns wäre fast zu einem Kurort geworden mit seinem „Bad und Kurhaus der Rhätischen Mineralheilquellen AG Rhäzüns“. M.s.u. 45. Mineralquelle. Der Wirtschaftliche Aufschwung war leider nur von kurzer Dauer, denn es folgten in den nächsten 30 Jahren zwei Weltkriege und zwischendurch eine Welt!nanzkrise. Dadurch entstand eine hohe Arbeitslosigkeit; zudem hatte man auch noch einige Male Maul-und-Klauenseuchen-Quarantänen durchzustehen.19
Die Zeit des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Der Erste Weltkrieg (1914-1918) hat die selbstversorgende Familienwirtschaft weitgehend geschwächt. Die Viehpreise sind eingebrochen, die Landwirtschaft geriet aufgrund ihrer Marktabhängigkeit in den 1920er-Jahren in eine Krise. Im Jahr 1929 kam noch die Weltwirtschaftskrise hinzu (vergleichbar mit der Bankenkrise von 2008), welche die Wirtschaft noch tiefer in die Krise riss, als sie es ohnehin schon war. Die Arbeitslosigkeit nahm in den 1930er-Jahren dadurch weiter zu, wie auch die ausserordentlichen politischen Unruhen das Geschehen zunehmend beherrschten.20
Grenzbesetzung 1914 - II 91.2. Zug. im Val Bregaglia. Darunter sind einige Rhäzünser. (Sammlung chrsp.)
Thusner Septembermarkt in den 1930er-Jahren (Archiv BP) (Sammlung chrsp.)
Kühe und Rinder so weit das Auge reicht; die Marktwiese platzt fast aus den Nähten. Die Viehpreise: Für Kühe wurden zum Beispiel Preise zwischen Fr. 600.- und Fr. 800.- statt der sonst üblichen Fr.1500.- bis 2000.- verlangt.
Trotz Krise durften einige Rhäzünser wegen der Nähe zu Ems ein wenig Ho#nung schöpfen, denn am 23. Mai 1936 wurde die „Holzverzuckerungs AG“ (HOVAG) in Domat/Ems durch Dr. W. Oswald gegründet. Nach längeren Verhandlungen mit der Standortgemeinde, dem Kanton und dem Bund konnte am 2. August 1941 mit dem Bau begonnen werden. Im Herbst 1942 begann man mit der Produktion von „Emser Wasser“, dem 60%igen Methylalkohol (Feinsprit). Einige Rhäzünser fan-den dort von Anfang an Arbeit und damit auch ein sicheres ganzjähriges Verdienst.21
Aufgrund des Machthungers des Nationalsozialismus in Deutschland kam es indessen in der schweizerischen Nachbarschaft so, wie man es hatte kommen sehen.22
Am 31. August 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus.
Am 2. September 1939 erfolgte die Generalmobilmachung der gesamten Armee. Rund 500`000 Mann (ohne die Nachstellungspflichtigen) mussten Familie und Hof verlassen. Die Bündner Grenzschutztruppen besetzten bis Ende 1939 fast ausnahmslos im bündnerischen Raum die ihnen zugewiesenen Grenzabschnitte. Die Mobilmachung war zu einem Zeitpunkt erfolgt, als die Landwirtschaft auf dem Höhepunkt ihrer Arbeitsbelastung stand: Die Ernte musste eingebracht werden, die Alpentladungen waren unaufschiebbar, die Viehmärkte mussten den saisonalen Viehabsatz ermöglichen. Viele Bauernbetriebe blieben während langer Zeit verwaist und konnten nur notdürftig bewirtschaftet werden. Mancherorts herrschte bezüglich der Arbeitskräfte eine eigentliche Notlage.23
1939: Kriegsmobilmachung
Das Jahr 1940 stand im Zeichen der Intensivierung und Ausweitung des Krieges. Norwegen, Dänemark, Belgien, Luxemburg, Holland und Frankreich wurden durch die Deutschen besiegt. Die Schweiz war seit dem Juni 1940 von den Mächten der Finsternis völlig eingekreist. Immer mehr begannen sich die Folgen des Krieges auch in unserem Lande bemerkbar zu machen, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht.
Das Jahr 1941: Der Krieg weitete sich weiter aus. Im Juni brach der Krieg zwischen Deutschland und Russland aus und gegen Ende des Jahres begann derselbe im pazi!schen Ozean zwischen Japan und den Vereinigten Staaten. Unter diesen Umständen war ein Ende dieses ungeheuren Weltkrieges nicht abzusehen.24 Auf mi-litärischer Seite gewann mehr und mehr die Ernährungsfront an Gewicht. So vorausschauend für den Ernstfall im militärischen Bereich geplant worden war – er-gänzt durch Vorratshaltungen und sofort in Kraft tretende Rationierungsmassnahmen – reichte das Vorhandene für die Ernährung der Bevölkerung während ei-ner langen Kriegsperiode doch nicht aus. Schwierig gestaltete sich die Versorgungslage bezüglich des Brot- und Futtergetreides. Es fehlten für die ausreichende Ernährung der Bevölkerung rund 2/3 des Bedarfes. In den Friedensjahren war dieser durch die Einfuhren gedeckt worden.
1942/45: Nach dem Plan von Friedrich Traugott Wahlen, Beauftragter des Bundesrates, sollte die schweizerische Landwirtschaft verdoppelt werden. Diese "Anbauschlacht" erstreckte sich über die ganzen Kriegsjahre. Sie legte Zeugnis von der Leistungskraft des ganzen Volkes ab. In dieser "Anbauschlacht" wurden sogar die Grünanlagen in den Städten zu Anpflanzung von Kartoffeln, Zuckerrüben und Getreide genutzt, so dass der Selbtversorungsgrad der Schweiz mit Lebensmitteln von 52% (1939) auf 72% (1945) gesteigert werden konnte.
Die Anbaufläche in der Schweiz:
Gemüse verdoppelt von 8`000 ha auf 16`000 ha; Kartoffeln: von 45`000 ha auf 62`000 ha; Getreide: von 209`000 ha auf 360`000 ha
Das Hauptaugenmerk galt der offenen Ackerfläche für den Getreide- und Futteranbau.
Graubünden: Obschon ein typischer Viehzuchtkanton, durfte sich auch Graubünden diesen Mehranbaupflichten nicht entziehen. Seine offene Ackerfläche stieg von 3`800 ha auf 5`070 ha.25
Rhäzüns: Die Gemeinde unterlag ebenfalls der Versorgungs- und Mehranbaupflicht . Anbaufläche 1942/43 Getreide von 15.03 ha auf 30.89 ha; Kartoffeln von 14.66 ha auf 28.78 ha; Gemüse von 0.4 ha auf 4.24 ha; Obstbäume von 7.93 ha auf 27.91 ha
Körner-Mais, Raps, Zuckerrüben/Runkelrüben und Tabak: Fläche nicht bekannt.26
Die anschliessenden Jahre erforderten zusätzliche Anbauflächen, womit gewaltige Arbeitsleistungen verbunden waren. Die landwirtschaftlich geprägte Bevölkerung rang sich das Äusserste an Einsatz ab. Auch die Schulen, Vereine und Gruppen stellten sich willig in den Dienst des Gemeinschaftswerkes. Den Schülern der Kantonsschule beispielsweise oblagen die Rodung und Bepflanzung grosser komplexe von Brachland.
1944 Getreideernte: Garben, Binden und Aufstellen (Photo aus P. Metz. Geschichte d. Kant. Graubünden. Band III. Verlag Calven Chur 1993.)
Eine beträchtliche Leistung für den Mehranbau erbrachten die internierten Polen, welche seit 1940 in einer Gesamtzahl von 13`000 Asyl in der Schweiz genossen. Davon wurde Graubünden ein Kontingent von rund 1500 Mann zugewiesen. Im Jahre 1944 stieg dieser Bestand auf über 2500 Mann. Internierte, die sich für einen individuellen Einsatz eigneten, wurden einzelnen Landwirtschaftsbetrieben als Hilfskräfte zugewiesen; es waren dies im Jahre 1942 immerhin 300 Mann. Den Rhäzünser Landwirten wurden etwa 20-30 Mann je nach Bedarf zugeteilt. Die Gemeinde Rhäzüns bekam je nach Bedarf ein grösseres oder kleineres Detache-ment zugewiesen. Die Hauptleistung erbrachten indessen die auf den ganzen Kanton verteilten Arbeitsdetachemente, die grosse Landflächen rodeten und zu Kulturland umgestalten. Das ergab eine Mehrfläche von 150 ha. Dazu kamen Rodungen zur Wieslandgewinnung, Entwässerungen, Alpsanierungen usw.27
Kriegsjahr 1943: Infolge verschiedener Ereignisse sollte das Jahr als besonderes Schicksalsjahr in Erinnerung bleiben. Der Krieg war noch näher an unser Land herangerückt, was eine erhöhte Bereitschaft und neben dem üblichen Militärdienst am 9. September eine teilweise Mobilisation erforderte. Nachdem der Krieg auf Italien übergegriffen hatte, brachten sich 20`000 italienische Militärangehörige und Zivilisten in unserm Land in Sicherheit.
1943 Militärküche – Pastrin da la val Razén / Waschküche (Sammlung chrsp.)
Kriegsjahr 1944: Der Krieg dauerte auch in diesem Jahr mit gesteigerter Heftigkeit und Grausamkeit an. Für Deutschland und Japan bedeutete es nunmehr ein letztes verzweifeltes Ringen. Auch für die Schweiz galt es, jederzeit in Bereitschaft zu stehen, in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Als ganz besonderes Ereignis dürfen wir im kurzen Rückblick auf das Jahr 1945 die Beendigung des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai registrieren. Nun waren die "Grossen" daran, die Welt weg vom Krieg zum Frieden zu führen.28
Zusammenfassung über die Krisenzeit und danach
Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Viehpreise eingebrochen waren, geriet die Bündner Landwirtschaft über zwei Jahrzehnte hinweg, aufgrund ihrer Marktabhängigkeit, in eine Krise. Erst durch die staatliche Unterstützung Mitte der 1940er-Jahre wurden sie wieder aus der Kriese herausgeführt. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts greift der Staat mit Gesetzen und Schutzverordnungen lenkend ein, vergibt aber auch Prämien und fördert die landwirtschaftliche Bildung. Weiter folgten staatliche Investitionen in Gebäude und Wege. Die Bauern selbst schlossen sich zur Wahrung ihrer Interessen in überkommunalen Vereinen und Genossenschaften zusammen. Entgegen den Befürchtungen gab es nach dem 2. Weltkrieg keine Arbeitslosigkeit, sondern einen ungeahnten Aufschwung in der Industrie und im Gewerbe. Dadurch begann eine grosse Abwanderung aus der Landwirtschaft, was höhere Löhne sowie kürzere und geregelte Arbeitszeiten zu Folge hatte, sodass die Mechanisierung in der Landwirtschaft notwendig wurde zur Sicherung der Landesversorgung und Aufrechterhaltung der Betriebe.29
Bei den nebenberuflichen Bauern, die eine Landwirtschaft für die Selbstversorgung betrieben, und bei den hauptberuflichen Bauern zeichnete sich ab 1945 bis 1970 eine deutliche Überalterung ab. Viele haben schleichend in den nächstfolgenden Jahren, des Alters wegen aufgrund fehlenden Nachwuchses oder eines bescheidenen mittleren Wohlstandes, die Landwirtschaft aufgegeben (1948: Einführung der AHV-Rente); nicht dass es an Nachwuchs gefehlt hätte, doch wollten die jungen Leute der Scholle nicht mehr treu bleiben. Dafür entwickelte sich für einige, die für sich in der Freizeit eine Nebenbeschäftigung suchten, eine neue Betriebs-Kategorie: „Hobby Pur“. Sie pachteten Land, Scheunen und Ställe und züchteten vor allem so genannte Ausstellungsschafe.30
1965 Jakob Haltiner-Diggelmann mit Pferd Roland beim Heuen in Tschaneuntas