1. Einleitung

von Christian Spadin

Eine Dorfchronik kann für die Gemeindeeinwohner ein wichtiges Orientierungsmittel sein. Sich der Zustände, Ereignisse und Werte der Vergangenheit zu erinnern, darf ferner auch den Willen zur Integration verstärken.1

Als Rhäzünser Bürger sei es mir gestattet, mit einer grösseren Arbeit über die Entstehung dieser kleinen Gemeinde und ihre „grosse“ Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten. Rhäzüns war ein regionales Herrschaftszentrum, für das sich Grossmächte wie Frankreich, Österreich und mächtige Dynastien wie die Hohenzollern und die Habsburger interessierten. Dies ging so weit, dass sie die Rhäzünser Ländereien zeitweise in Besitz nahmen.

Die Monumente aus dieser Epoche sind alle sehr gut erhalten. Das Schloss, die Kirchen St. Georg, St. Paul und Maria Geburt sowie die Kapellen St. Apollonia, St. Nepomuk und St. Antonius stehen unter Denkmalschutz. Sie haben zum Teil schweizerischen, ja gar europäischen Bekanntheitsgrad erlangt.

Die in dieser Chronik enthaltenen Geschichten sind in einer Zeitspanne von über 1100 Jahren in unzähligen Urkunden in über halb Europa verteilten Archiven gesammelt worden. Die Urkunden wurden in verschiedenen Sprachen und Schriften verfasst. Sie mussten vorerst von Sprachwissenschaftlern und Historikern in ein verständliches Neudeutsch übersetzt werden. So konnten Interessierte die Urkunden in informative Geschichten bis ins Detail zusammenfassen. Es entstanden Geschichten, um sie den jetzigen und der späteren Generationen bekannt zu machen. Unter diesen Dokumenten sind interessante Quellen, die mich in meinen Forschungen immer weiter gebracht haben.

Eines gleich vorweg: Als Bauernsohn habe ich den Beruf meiner Eltern erlernt und diesen mehrere Jahrzehnte lang ausgeübt. Deshalb liegt es nahe, dass ich auf die Entwicklung der Rhäzünser Land- und Alpwirtschaft, den einstmals wichtigsten Bestandteilen der Volkswirtschaft, einen Fokus lege. Um den Rhäzünser Bauernstand von 1850 bis 1965 gesamtheitlich zu erfassen, muss man fast die ganze Dorf-Bevölkerung heranziehen. Die einheimischen, sesshaften Rhäzünserfamilien waren eigentlich alle Kleinbauern. Sie lebten von dem, was der lokale, eigene Boden hergab. Es war eine Selbstversorgungs-Gemeinschaft, wobei die Versorgung der eigenen Familie im Vordergrund stand. Man lebte in unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Abhängigkeiten. Zwischen 1945 und etwa 1970 erlebte die Bauerngemeinde Rhäzüns einen der grössten Wandlungsprozesse. Entgegen den Befürchtungen gab es nach dem 2. Weltkrieg keine Arbeitslosigkeit, sondern einen ungeahnten Aufschwung in der Industrie und im Gewerbe. Dadurch begann eine grosse Abwanderung aus der Landwirtschaft.

Mein Interesse an der Rhäzünser Geschichte geht weit in meine Jugendzeit zurück. Mir blieb vieles in Erinnerung, was zum Beispiel meine Vorfahren über ihre Vorfahren erzählten oder ganz allgemein über die früheren Zeiten diskutierten. Bei solchen Diskussionen konnte ich stundenlang zuhören. Wenn sie diese alten Geschichten erzählten, erklärten sie mit leicht verlegener Stimme: „Nus savevan da nut auter“ (Etwas anderes kannten wir nicht). Gemeint war, dass die jüngeren Generationen viel besser leben als die Vorfahren von damals. Zudem bewahrte ich alle Dokumente in Schrift und Bild auf, die mit Rhäzüns zu tun hatten. 

Das Material wuchs allmählich so stark an, dass ich begann, es chronologisch zu ordnen, um mir eine Übersicht zu verschaffen. Aufgrund dessen wagte ich mich tiefer in die Materie hinein und begann sämtliche Rhäzünser Geschichtsquellen zu durchsuchen, um über die früheren Zeiten berichten zu können.

„Gewisse Dinge verstehe ich nicht mehr, sobald ich sie begriffen habe“. (Karl Heinrich Wagerl)

Fokussiert wird auf die Entstehung und Entwicklung folgender Kapitel des Dorfcharakters und der Dorfgeschichte:
- Geographie und Verkehrsgeschichte.
- Herkunft und Zusammensetzung der Dorfbevölkerung der letzten 500 Jahre.
- Entwicklung der Land- und Volkswirtschaft, die während 30 Jahren zwei Weltkriege sowie eine Weltwirtschaftskrise überstehen mussten.
- Schulhäuser / Schulwesen und die romanische Sprache.
- Entstehung des Christentums bis zur heutigen Pfarrgemeinde.
- Kirchen, Kapellen, Pfarrhäuser und Begräbnisstätten. 
- Die Reformationszeit rund um Rhäzüns. 
- Freiherren und Herrschaft von Rhäzüns bis zum Übergang an den Kanton Graubünden.
- Schloss Rhäzüns, Hochgericht, Gerichtslinde. 
- Zeittafel: Die ehemalige Herrschaft von Rhäzüns, in der Zeit von ca. 1100 bis 1819.
- Zeittafel: Von der Eiszeit bis 2018. 
- Anhang: Verschiedene kleinere und grössere Geschichten.

Da im Jahr 2019 die 200-Jahrfeiern von der Übergabe und Übernahme der Herrschaft Rhäzüns an und durch den Kanton Graubünden und an die Schweiz stattfinden, ist es mir ein Anliegen, eine Dorf-Chronik mit den Lokalgeschichten von Rhäzüns, in ganzheitlicher Sicht und zeitlich geordnet zu erstellen. Die Geschichte und die einstige Bedeutung unserer Gemeinde soll für Interessierte umfassend zugänglich sein.

Die einzelnen Geschichten sind in Bild und in Originaltext umfangreich aufgeführt, so dass sie dem Leser das Gefühl geben sollen, ein Lexikon über Rhäzüns vor sich zu haben. Damit die Würze in der Kürze bleibt, ist beiliegend eine Zeittafel separat angefügt, welche die Geschichten in Kurzfassung beinhaltet.

Die Aufzeichnung der Dorfgeschichte möge, soweit sie erforscht werden konnte, unseren Nachkommen als Nachschlagewerk dienen.

Für die Zukunft habe ich ein grosses Anliegen an die Gemeinde-Behörden sowie an alle Einwohner von Rhäzüns im Hinblick auf die Entwicklung in der Gemeinde:
- Sich für die Gemeinschaft, Institutionen und Vereine zu engagieren
- Sorge zu tragen zu unseren Kulturgütern, ja, allgemein sich für die Kultur einzusetzen
- Traditionen zu bewahren und neue zu schaffen
- Dorf- und Landschaftsplaner, die an Bestehendem Veränderungen vornehmen, besonders im Auge zu behalten und ihnen gegenüber konstruktiv kritisch zu sein

Wie man der vorliegenden Chronik entnehmen kann, ist die Landschaft des einst so genannten „Rhäzünser Bodens“ (heute Bezirk Imboden) historisch und kunsthistorisch eine der interessantesten Landschaften Graubündens. In diesem Zusammenhang hoffe ich, dass es spätestens der nächsten Generation gelingen wird, die Hochspannungsleitungen über dem Bezirk Imboden (unter Boden) in den Boden zu verlegen.Tarmuz liber!“

Ebenfalls hoffen darf man, dass der initiative Geist und die Leidenschaft unserer Vorfahren auch in Zukunft in unseren Nachkommen weiterleben werden und so für das Dorf erhalten bleiben. Ziel dieser Dorf-Chronik ist es unter anderem auch, die Leser selber zur aufmerksamen Geschichtsforschung zu animieren.2

Zum Schluss: „Während ich mich tief in vergangene Zeiten unserer Gemeinde vergrub, gab es Momente, in denen ich mir nicht sicher war, in welchem Zeitraum ich mich gerade befand“. (chrsp.)


Es freut mich, Vielen für vieles zu danken:
- In erster Linie meiner lieben Familie; meiner Frau Judith, Sohn Moreno, Tochter Maria mit Matthias und Familie sowie Tochter Raffaela mit Part​ner, wel​che viel Ver​ständ​nis und Ge​duld brauch​ten.
- Ein spe​zi​el​les Dan​ke​schön an Sil​ves​ter Ca​me​nisch † (1935-2012) und An​to​nia Ca​me​nisch-Rie​di. Sil​ves​ter hat​te mir im​mer wie​der Mut ge​macht: „Mach wi​ter!“ - Den Mit​glie​dern des Kul​tur-Ar​chivs: Ge​or​gi​na Ca​mina​da, Her​bert Bo​no​rand, Gi​on Ge​ron​i​mi, Christ Ge​org Ca​mina​da, Ru​dolf Oert​le, Re​to Löp​fe und Ursi​na Pel​lic​cia-Sci​uc​chet​ti.
- Vie​len Dank an Be​ne​dikt (Be​ni) Hei​ni vom Zi​vil​stan​des​kreis Im​bo​den Do​mat/Ems.
- Den Kirch​ge​mein​de-Prä​si​den​ten/-in​nen von Rhäzüns Gi​on Ge​ron​i​mi und Ric​car​da Lem​mer-Ep​li.
- Cu​min bur​gai​sa da Razén / Bürger​gemeinde: Prä​si​dent Christ Ge​org Ca​mina​da.
- Po​li​ti​sche Ge​mein​de​kanz​lei Rhäzüns: Ignaz Ca​dosch, Adria​no Je​nal und Mit​ar​bei​ter/- in​nen.
- Staats​ar​chiv des Kan​tons Grau​bün​dens, Ab​teil. Ge​nea​lo​gie (Frau Band​li), Ab​teil Lan​des​ak​ten der Drei Bün​de.
- Bi​schöf​li​ches Ar​chiv Chur (BAC) für die Ein​sicht​nah​me im Di​gi​ta​lis Ur​kun​den​be​reich des Ar​chivs. Ar​chi​var Herrn Dr. Pfar​rer Al​bert Fi​scher und Team.
- Dem Kor​rek​tor: Pe​ter Jä​ger aus Chur.
- Für die Teil​durch​sicht des Ma​nu​skripts: Ma​ri​an​ne Bra​ze​rol-Som​merau u. Va​len​ti​na Bi​on​do-Ca​mous.
- Al​len Aus​kunfts​per​so​nen, die mich stets freund​lich und wil​lig mit Infor​mationen und Leih​ga​ben von Text- und Bild​ma​te​ri​al ver​se​hen ha​ben.
- Al​len, die mit fi​nan​zi​el​len Bei​trä​gen das Er​schei​nen die​ses Wer​kes er​mög​li​chen.

 

Über Chris​ti​an Spa​din (1948-2020)

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- Aus​bil​dung zum Land​wirt
- Den el​ter​li​chen Land​wirt​schafts-Be​trieb über​nom​men und die​sen über 25 Jah​re ge​führt.
- 10 Jah​re als Auf​se​her im Guts​be​trieb der kan​to​na​len Jus​tiz​voll​zugs​an​stalt Real​ta.
- Aus ge​sund​heit​li​chen Grün​den vor​zei​tig pen​sio​niert.
- Ver​hei​ra​tet mit Ju​dith Spa​din-Ca​dosch, Va​ter von drei er​wach​se​nen Kin​dern, Tat von 5 Bu​ben.

Nachruf im Dezember 2020

ZUM GEDENKEN

Christian Spadin  (16. August 1948 – 28. Oktober 2020)

Nicht alle Tage begegnet man Menschen, die sich geradezu leidenschaftlich und gründlich mit der Ortsgeschichte und Heimatkunde befassen, obschon sie beruflich mit ganz anderen Aufgaben beschäftigt waren. Christian Spadin, engagierter Landwirt und später Angestellter in der Strafvollzugsanstalt Realta in Cazis, beeindruckte mich deshalb ganz besonders mit seinem grossen Wissen und seiner Liebe zu den kulturellen Zeugen der Vergangenheit an seinem Heimatort. Schon als kleiner Junge hatte er es geliebt, den älteren Leuten aus dem Dorf zuzuhören, die Geschichten von früher erzählten. Dieses Interesse behielt er sein Leben lang. Über Jahre hinweg hatte er sich in die umfangreiche, oft anspruchsvolle Literatur zur Geschichte des Dorfes mit seinen Kulturgütern von nationaler Bedeutung eingelesen, Arbeit in den Archiven geleistet, Materialien zusammengefasst und Bilder gesammelt. Mehrere hundert Seiten umfasste schliesslich sein Manuskript, als er mich für ein Lektorat seiner Dorfchronik Rhäzüns anfragte. Ich konnte ihm zusagen, auf der sprachlichen Ebene behilflich zu sein, nicht aber sein immenses Wissen zu erweitern oder zu korrigieren. Christian Spadin beeindruckte mich durch seine Bescheidenheit und sein freundliches Wesen. Seinen berechtigten Stolz auf das Erreichte – er dachte auch an einen Beitrag zum Gedenkjahr 2019 an das Ende der österreichischen Herrschaft Rhäzüns – liess er nur diskret durchblicken. Am liebsten wäre ihm ein Buch gewesen, aber der sehr grosse Umfang seiner Materialien verunmöglichte allein schon aus Kostengründen diesen Plan. Zum Glück gibt es heute Publikationsmöglichkeiten im Internet, die einen weiten Kreis von Interessierten erreichen können. Dank der Mithilfe des Kulturarchivs und der Gemeinde Rhäzüns war schliesslich diese Form der Veröffentlichung möglich. Der Verfasser war auch mit dieser Lösung zufrieden.

Christian Spadin kam am 16. August 1948 zur Welt und wuchs in Rhäzüns auf, wo er seine Eltern tatkräftig auf deren Bauernhof unterstützte. So wurde er schliesslich auch zum Bauern. Da ihm das Wohl der Tiere am Herzen lag, achtete er auf eine tiergerechte Haltung – noch bevor die Konzepte Mutterkuhhaltung und Laufstall Verbreitung und Akzeptanz fanden. Ausdruck seiner Tierliebe war auch, dass er im Militär zum Kavalleristen wurde. Am wichtigsten war ihm aber stets seine Familie. Seine Kinder und Enkel erfüllten ihn mit grosser Freude und Stolz. Christian Spadin ist am 28. Oktober 2020 nach schwerer Krankheit verstorben.

Peter Jäger, Chur, im Auftrag der Gemeinde Rhäzüns

[Die Angaben zur Biographie verdanke ich herzlich dem Lebenslauf der Familie.]

Kon​takt: cas​pju25@​gmail.​com